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Der Eigentumsvorbehalt im deutschen, belgischen und im Internationalen Recht (B2B)
Allgemein /von Guido ImfeldDer Eigentumsvorbehalt ist eines der wichtigsten Sicherungsmittel im unternehmerischen Verkehr. Bei den meisten Transaktionen ist der Verkäufer vorleistungspflichtig und hat daher ein großes Interesse daran, den Anspruch auf Kaufpreiszahlung dadurch abzusichern, dass er für den Fall, dass der Käufer den Kaufpreis nicht entrichtet, das Recht hat, die Ware als Eigentümer auf sachenrechtlicher Grundlage (§ 985 BGB) im Rahmen der sogenannten Vindikation zurückzufordern.
Kein Handelsvertreterausgleich für den Unter-Handelsvertreter bei Beendigung des (Haupt-) Handelsvertretervertrages durch den Prinzipal
Standpunkte /von Guido ImfeldBesprechung der Entscheidung des Appellationsgerichtshofs Lüttich vom 16.01.2020
Der Handelsvertreterausgleich
Wird ein Handelsvertretervertrag durch den Prinzipal beendet und liegen keine Gründe in der Person des Handelsvertreters vor, die zu einer Kündigung aus wichtigem Grunde Anlass gegeben haben, hat der Handelsvertreter Anspruch auf den sogenannten Handelsvertreterausgleich, im deutschen Recht gemäß § 89b HGB, im belgischen Recht gemäß Artikel X.18 des Wirtschaftsgesetzbuches. Der Handelsvertreterausgleich soll den Handelsvertreter dafür entschädigen, dass er aufgrund der Beendigung des Handelsvertretervertrages keine Vorteile mehr aus den von ihm geworbenen Kunden ziehen kann.
Voraussetzung für den Handelsvertreterausgleich ist die Übertragung des Kundenstamms an den Prinzipal. Diesem muss daher ein Vorteil aus der Werbung und Übertragung des Kundenstamms verbleiben. Unter dieser Voraussetzung kann der Handelsvertreter daher Anspruch erheben auf einen Ausgleich für die Umsatzverluste, die er mit den von ihm geworbenen Kunden bei Fortführung des Vertrages gezogen hätte.
Der Handelsvertreterausgleich im doppelstöckigen Handelsvertretervertrag
Eine spannende Rechtsfrage ist jedoch, wie es sich verhält, wenn ein doppelstöckiges Handelsvertreterverhältnis vorliegt.
In dem zu entscheidenden Fall vertrieb ein (Haupt-) Handelsvertreter Backwaren einer deutschen Unternehmung (Prinzipal) u.a. in Belgien. Der Vertrag unterlag dem belgischen Recht. Der Handelsvertreter bediente sich zur Erfüllung des Handelsvertretervertrages jedoch eines eigenen Handelsvertreters, der nachfolgend als Unter-Handelsvertreter bezeichnet werden soll.
Der Prinzipal kündigte den Vertrag ordentlich zum 31.12.2016 und zahlte an seinen Handelsvertreter einen Handelsvertreterausgleich in Höhe von ca. 35.000,00 Euro. Die Hälfte des Ausgleichsanspruchs entfiel auf Umsätze, die der Haupt-Handelsvertreter mit einer großen Supermarktkette, die er als Kunden geworben hatte, erzielte. Der restliche Anspruch bezog sich auf sogenannte Detailkunden, d.h. kleinere Lebensmittel- und Einzelhandelsgeschäfte, die von dem Unter-Handelsvertreter geworben worden waren.
Aufgrund der Kündigung des Handelsvertretervertrages entfiel die Geschäftsgrundlage für das Vertragsverhältnis zwischen dem Haupt- und dem Unter-Handelsvertreter. Das Vertragsverhältnis wurde ohne Kündigungsfrist und in Anwendung von Artikel X.17 des belgischen Wirtschaftsgesetzbuches faktisch beendet. Man hätte zwar von dem Haupt-Handelsvertreter erwarten können, dass er mit Erhalt der Kündigung des Prinzipals auch seinerseits eine Kündigung gegenüber dem Unter-Handelsvertreter ausspricht, um Klarheit zu schaffen und die gesetzliche Kündigungsfrist des Handelsvertreterrechts einzuhalten. Dies tat der Haupt-Handelsvertreter jedoch aufgrund der Befürchtung, der Unter-Handelsvertreter würde dann den Ausgleichsanspruch beanspruchen, nicht. Dem Unter-Handelsvertreter war es nicht zumutbar, weiterzuarbeiten, da er ausschließlich auf Provisionsbasis tätig war, jedoch Produkte des Prinzipals nicht mehr vertreiben konnte. In dem konkreten Fall stellte sich jedoch das Problem der Kündigungsfrist nicht, weil der Unter-Handelsvertreter fortan für den Prinzipal tätig war und insoweit keine Provisionsverluste im Rahmen der Kündigungsfrist erlitt.
Allerdings führte die Übertragung des Kundenstamms an den Prinzipal gegen Zahlung des Handelsvertreterausgleichs an den Haupt-Handelsvertreter dazu, dass die Kunden Bestandskunden des Prinzipals wurden. Dies bedeutet, dass der Unter-Handelsvertreter im Falle der Beendigung des neuen, nunmehr unmittelbaren Vertrages mit dem Prinzipal keinen Anspruch auf Handelsvertreterausgleich für die von ihm geworbenen Kunden gehabt hätte.
Daher beanspruchte der Unter-Handelsvertreter einen Handelsvertreterausgleich von dem Haupt-Handelsvertreter.
Die rechtliche Problemstellung
Das rechtliche Problem des Falles lag darin, dass der Handelsvertreterausgleich grundsätzlich nur dann geschuldet ist, wenn der Prinzipal, an dessen Stelle hier im Verhältnis zum Unter-Handelsvertreter der Haupt-Handelsvertreter steht, aus der Werbung der Kunden und der Übertragung des Kundenstamms noch Vorteile hat. Üblicherweise liegt der Vorteil darin, dass der Prinzipal durch Vermittlung von Geschäften an diese Kunden noch Provisionen erzielen kann.
In dem vorliegenden Fall konnte der Haupt-Handelsvertreter jedoch aufgrund der Beendigung des Vertrages durch den Prinzipal mit den von dem Unter-Handelsvertreter geworbenen Kunden keine Provision mehr erzielen.
Daher stellte sich die Frage, ob damit der Vorteil entfiel oder der dem Prinzipal, hier Haupt-Handelsvertreter verbleibende Vorteil auch ein anderer als die Erzielung von Provisionen aus dem übertragenen Kundenstamm sein kann. Konkret ging es um die Frage, ob der Handelsvertreterausgleich, den der Haupt-Handelsvertreter erhielt, ein solcher Vorteil ist.
Dafür spricht bereits, dass der Handelsvertreterausgleich eine Entschädigung für die Provisionen, die der Handelsvertreter in der Zukunft erzielt hätte, darstellt.
Wenn es sich aber so verhält, ist der Handelsvertreterausgleich ein Substitut für künftige Vorteile aus dem Kundenstamm. In der deutschen Lehre und Rechtsprechung besteht Übereinstimmung, dass selbst eine faktische Unmöglichkeit, den Kundenstamm zu nutzen, z.B. infolge der Geschäftsaufgabe, im Rahmen der Billigkeitsprüfung nicht per se zum Wegfall des Handelsvertreterausgleiches führt. Denn auch mit einer Geschäftsaufgabe oder einer Geschäftsänderung können noch Vorteile verbunden sein So z.B. gibt es nationale oder EU-Stilllegungsprämien, Abfindungen für vorzeitige Pachtgrundstücksräumung (so z.B. Frankfurt am Main, Betriebsberater 1985, 687 (Tankstellenaufgabe)), oder es kann ein erhöhter Kaufpreis bei Veräußerung des Unternehmens aufgrund des vom Handelsvertreter geworbenen Kundenstamms erzielt werden (so z.B. LG Hannover, 25. Januar 1996, HVR Nr. 906). Zum belgischen Recht schreibt Rechtsanwalt Patrick Kileste in seinem Buch „Contrat d´agence commerciale“, dass die Frage in der Rechtslehre strittig sei. In einem doppelstöckigen Handelsvertreter-Verhältnis sei jedoch der Unter-Handelsvertreter Handelsvertreter im Sinne der gesetzlichen Vorschriften. Er habe aufgrund dessen grundsätzlich einen Ausgleichsanspruch. Es sei daher unbillig, einen Ausgleichsanspruch des Handelsvertreters nur deshalb zu verneinen, weil es sich in dem konkreten Fall um einen Unter-Handelsvertreter handele. Deshalb müsse auch diesem unter Berücksichtigung des Gesetzeszwecks ein Ausgleichsanspruch zugestanden werden, wenn der Haupt-Handelsvertretervertrag gekündigt wird, soweit dem Haupt-Handelsvertreter aus der Werbung der Kunden durch den Unter-Handelsvertreter ein Vorteil in Form des Ausgleichsanspruchs entsteht.
Unbillig erscheint dies auch vor dem Hintergrund, dass ansonsten in einem doppelstöckigen Handelsvertreterverhältnis der Haupt-Handelsvertreter durch die Tätigkeit des Unter-Handelsvertreters ohne Gegenleistung bereichert würde. Weder die Handelsvertreterrichtlinie noch die Formulierung des Gesetzes legen dieses Ergebnis jedoch nahe.
Entscheidung des Appellationshofs Lüttich vom 16. Januar 2020
Bedauerlicherweise sah dies die 15. (deutschsprachige) Zivilkammer des Appellationshofs Lüttich in der Entscheidung vom 16. Januar 2020 anders. Mit den vorstehenden Überlegungen setzte sich das Gericht kaum auseinander. Der Wortlaut des hier maßgeblichen Artikel X.18 des belgischen Wirtschaftsgesetzbuches sei, so das Gericht, eindeutig. Nach Maßgabe dieser Vorschrift hat der Handelsvertreter nach Beendigung des Handelsvertretervertrages Anspruch auf eine Ausgleichsabfindung, wenn er neue Kunden für den Auftraggeber geworben oder die Geschäftsverbindung mit der bestehenden Kundschaft wesentlich erweitert hat und wenn dies dem Auftraggeber noch erhebliche Vorteile einbringen kann. In der Begründung der Entscheidung geht der Appellationshof jedoch davon aus, „noch“ sei synonym mit „in der Zukunft“. Der Anspruch auf Ausgleichsentschädigung sei jedoch kein zukünftiger Vorteil, sondern entstehe durch die Beendigung des Handelsvertretervertrages.
Die Gleichsetzung des Wortes „noch“ mit „in der Zukunft“ ist jedoch fehlerhaft. Diese Gleichsetzung ist bereits semantisch nicht zu belegen. Der Satz „wir haben noch ausreichend Lagerbestand.“ heißt nicht, dass dies in der Zukunft noch der Fall sein wird, sondern jetzt aktuell, also: noch. Auch im Französischen wäre die jedenfalls ausschließliche Gleichsetzung von „encore“ mit „à l´avenir“ eher fernliegend. Gemäß dem Larousse soll „encore“ bedeuten: „indique la persistance d´une action ou d´un état à un moment donné, indique la répétition, de nouveau, indique l´addition, en plus, en outre, d´avantage etc. ». „Noch“ bedeutet insoweit vor allem fortdauernd. Dies liegt auch die englische Fassung der Handelsvertreterrichtlinie nahe, die von „continues to derive substantial benefits“ spricht. Mit der Beendigung des Unter-Handelsvertretervertrages hat der Haupt-Handelsvertreter noch Vorteile, weil er aus den geworbenen Kunden den Handelsvertreterausgleich gegenüber dem Prinzipal beanspruchen kann und er insoweit aus den Geschäften mit diesem Kunden noch erhebliche Vorteile zieht (vgl. Art. 17 Abs. 2, 1. Spiegelstrich der Richtlinie 86/653/EWG des Rates vom 18. Dezember 1986 zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die selbständigen Handelsvertreter). Ob diese Geschäfte in der Zukunft oder Vergangenheit liegen, erschließt sich nicht unmittelbar aus dem Wortlaut der Vorschrift.
Dass der Wortlaut nicht eindeutig ist, legt im Übrigen auch bereits der Umstand nahe, dass das Gericht erster Instanz in Eupen der Argumentation des Klägers gefolgt war und die Frage in der Rechtslehre umstritten ist. Der Appellationshof hätte daher die Angelegenheit jedenfalls dem Europäischen Gerichtshof vorlegen müssen.
Aktuell handelt es sich, soweit bekannt, um die erste obergerichtliche Entscheidung zu dieser Frage im belgischen Recht. Der Kläger hat sich entschlossen, Revision einzulegen. Es wird abzuwarten bleiben, was der belgische Kassationsgerichtshof entscheidet.
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Schweigen in Belgien ist nicht Gold – Erweiterte Fiktion des Anerkenntnisses durch Schweigen im unternehmerischen Geschäftsverkehr im belgischen Recht
Standpunkte /von Guido ImfeldReden ist Silber, Schweigen ist Gold, eine Redensweisheit, die sich nicht unmittelbar auf den unternehmerischen Geschäftsverkehr übertragen lässt.
Grundsatz: Schweigen hat keine rechtliche Bedeutung
Im Zivil- und Handelsrecht gilt grundsätzlich, dass Schweigen nichts bedeutet. Schweigen meint dabei die Abwesenheit einer Reaktion. Nicht zu verwechseln ist Schweigen mit der bloßen Abwesenheit einer verbalen Reaktion. Denn auch rein faktische Handlungen, Realakte, können selbstredend sein, d. h. eine rechtliche Bedeutung haben.
Ein Kaufvertrag kommt durch ein Angebot und dessen Annahme zustande. Erfolgt keine Reaktion, weder verbal noch durch andere Handlungen, wird das Angebot nicht angenommen. Es gilt deshalb gemäß § 146 BGB als abgelehnt. Rechtsfolge ist, dass kein Vertrag zustande kommt und die nicht reagierende, d. h. schweigende Person keine Rechtsfolge auslöst.
Ausnahme 1: Stillschweigende Annahme durch Handeln
Reagiert der Adressat des Angebotes zwar mit Schweigen, jedoch durch eine Handlung, muss diese daraufhin überprüft werden, ob sie einen Erklärungswert hat, weil sie gegebenenfalls als stillschweigende Erklärung gedeutet werden kann. Dies ist zum Beispiel der Fall bei der Entgegennahme einer Lieferung. Zwar wird das Angebot nicht ausdrücklich angenommen, doch darf die widerspruchslose Entgegennahme einer Lieferung als Annahme des Angebotes gedeutet werden. Der Besteller hat zwar geschwiegen, jedoch beredt gehandelt und der Vertrag ist wirksam zustande gekommen.
Das gleiche gilt im internationalen Kaufrecht nach Maßgabe der last-shot-theory. Der Verkäufer bietet unter Hinweis auf seine allgemeinen Geschäftsbedingungen an, der Käufer nimmt das Angebot unter Hinweis auf seine eigenen Bedingungen an. Zwischenergebnis wäre, dass wegen nicht übereinstimmender Willenserklärungen kein Vertrag zustande gekommen ist. In aller Regel liefert dann jedoch der Verkäufer mit einem Lieferschein bzw. Rechnung unter Hinweis auf seine eigenen Allgemeinen Geschäftsbedingungen. Der Käufer nimmt die Lieferung vorbehaltlos an und damit ist ein Kaufvertrag nach Maßgabe des ursprünglichen Angebotes verbunden mit den Allgemeinen Geschäftsbedingungen des Verkäufers zustande gekommen, da dieser zuletzt „geschossen“ hat.
Ausnahme 2: Schweigen hat nur Bedeutung, soweit gesetzlich angeordnet
Soweit jedoch tatsächlich keine Reaktion, also ein Schweigen im umgangssprachlichen Sinne vorliegt, bedarf es einer ausdrücklichen gesetzlichen Anordnung, damit an das Schweigen eine Rechtsfolge geknüpft wird.
Im deutschen Recht gibt es Beispiele hierfür. Ein Beispiel betrifft den Fall, dass eine Erbschaft nicht innerhalb einer bestimmten Frist ausgeschlagen wird. Die Abwesenheit einer Reaktion, das Schweigen führt daher zu der Fiktion der Annahme der Erbschaft. Von wesentlich praktischerer Bedeutung ist eine andere Ausnahme, nämlich das Schweigen auf ein sogenanntes kaufmännisches Bestätigungsschreiben.
Gesetzliche Ausnahme: Kaufmännisches Bestätigungsschreiben
Voraussetzung der Theorie des kaufmännischen Bestätigungsschreibens, gestützt auf den Rechtsgedanken des § 362 HGB, ist, dass zwei Kaufleute mündlich einen Vertrag geschlossen haben und eine der Parteien den Gegenstand des Vertrages zum Zwecke der Dokumentation schriftlich bestätigt. Der Empfänger dieses Schreibens muss dieses auf inhaltliche Richtigkeit überprüfen. Reagiert er hierauf nicht innerhalb angemessener Frist, gilt der Inhalt des Schreibens auch in dem Falle, dass das Schreiben den Vertrag nicht korrekt wiedergibt. Wird dort zum Beispiel eine falsche Menge, ein falscher Preis oder eine andere Ware ausgewiesen, gilt bis zur Grenze des Dolosen der Inhalt des Schreibens als für den Adressaten rechtlich maßgeblich. Damit ist das kaufmännische Bestätigungsschreiben eine als Handelsbrauch (§ 346 HGB) anerkannte Sonderform des rechtsgeschäftlichen Schweigens.
Nationale und internationale Handelsbräuche, überraschende Regelungen
Dieser Handelsbrauch ist jedoch nur national anerkannt, nicht international. Diese Regelung mag im internationalen Rechtsverkehr überraschend sein, genauso wie bestimmte Regelungen in ausländischen Rechtsordnungen für uns im Einzelfall überraschend sind.
Art. 10 Rom I-Verordnung: Überraschendes Schweigen
In der Europäischen Union verhält sich die Rom I-Verordnung über die Frage des anwendbaren Rechts. Diese geht von dem Grundsatz aus, dass abseits einer Vereinbarung des anwendbaren Rechts (Art. 3 Rom I-Verordnung) gemäß Art. 4 das Recht des Landes zur Anwendung kommt, in dem die Partei, die die vertragscharakteristische Leistung erbringt, ihren Sitz hat. Es gilt also das Recht des Verkäufers, des Unternehmers, des Vermieters etc., da die Gegenleistung in Geld den Vertrag als solchen nicht charakterisiert.
In Anerkenntnis des Umstandes jedoch, dass es nicht möglich ist, sämtliche Einzelheiten ausländischer Rechtsordnungen zu kennen, sieht
Art. 10 Rom I-Verordnung vor, dass sich zwar das Zustandekommen und die Wirksamkeit des Vertrages nach dem Recht beurteilen, das
nach dieser Verordnung anzuwenden wäre, wenn der Vertrag oder die Bestimmung wirksam wäre. Allerdings macht Art. 10 Abs. 2 eine Einschränkung: Ergibt sich jedoch aus den Umständen, dass es nicht gerechtfertigt wäre, die Wirkung des Verhaltens einer Partei nach dem in Abs. 1 bezeichneten Recht zu bestimmen, so kann sich diese Partei für die Behauptung, sie habe dem Vertrag nicht zugestimmt, auf das Recht des Staates ihres gewöhnlichen Aufenthalts berufen.
Diese Ausnahme betrifft insbesondere Fiktionen, wonach Rechtsfolgen an das Ausbleiben einer Reaktion, vulgo Schweigen geknüpft werden.
Schweigen im internationalen Kaufrecht: Art. 18 Abs. 1 Satz 2 CISG
Im internationale Kaufrecht, dem UN-Kaufrecht, gilt gemäß dessen Art. 18 Abs. 1 Satz 2 CISG, dass eine Erklärung oder ein sonstiges Verhalten des Empfängers, das eine Zustimmung zum Angebot ausdrückt, eine Annahme darstellt, Schweigen oder Untätigkeit jedoch keine Annahme darstellen.
Ausnahme 3: Schweigen im belgischen Wirtschaftsrecht
Das gilt jedoch nicht unbedingt in der Praxis. Sehr häufig wenden belgische Gerichte die ursprünglich auf Art. 25 des Handelsgesetzbuches beruhende gesetzliche Vermutung, dass Schweigen auf ein Schreiben eines Kaufmanns (also nicht auf das kaufmännischen Bestätigungsschreibens) Zustimmung zu dessen Inhalt bedeutet, auch im internationalen Rechtsverkehr in Fällen an, in denen das belgische unvereinheitlichte Recht gar nicht einschlägig ist. Hauptanwendungsbereich ist die widerspruchslose Entgegennahme von Rechnungen. Schweigen auf eine Rechnung bedeutet ein Anerkenntnis nicht nur des Rechnungsbetrages, sondern, da in aller Regel dort auf allgemeine Geschäftsbedingungen verwiesen wird, ein Anerkenntnis der Einbeziehung der allgemeinen Geschäftsbedingungen des Verkäufers in den Vertrag einschließlich dort enthaltener Gerichtsstandsklauseln.
Diese Theorie ist dogmatisch nicht haltbar, soweit das belgische vereinheitlichte Recht nicht anwendbar ist. Denn zum einen verdrängt das UN-Kaufrecht in seinem Anwendungsbereich, wozu auch die Frage des Zustandekommens eines Vertrages gehört, die Regeln des belgischen Zivil- und Handelsrechts. Gemäß Art. 18 Abs. 1 Satz 2 CISG kann daher an das Schweigen keine Rechtsfolge geknüpft werden. Zudem ist es bereits unter dogmatischen Gesichtspunkten schwer vorstellbar, dass ein bereits geschlossener Vertrag nachträglich durch eine Rechnung mit Verweis auf allgemeine Geschäftsbedingungen abgeändert wird. Dies gilt auch vor dem Hintergrund, dass nach Maßgabe des UN-Kaufrechts Allgemeine Geschäftsbedingungen nur dann wirksam in den Vertrag einbezogen werden, wenn sie vor oder bei Abschluss des Vertrages in der Sprache des Empfängers oder der Korrespondenzsprache übermittelt werden. Ein bloßer Hinweis reicht nicht aus, es sei denn, die Parteien stehen bereits in gefestigter Geschäftsbeziehung und die Allgemeinen Geschäftsbedingungen wurden zuvor übermittelt, wobei dann jedoch immer noch erforderlich ist, dass eine Einigung über deren Einbeziehung in die Geschäftsbeziehung erfolgt ist. Zuletzt gilt im Hinblick auf Gerichtsstandsvereinbarungen, dass diese gemäß Art. 25 der Brüssel I a-Verordnung im internationalen Rechtsverkehr schriftlich abgeschlossen werden müssen in der Weise, dass zumindest die Partei, gegen die die Gerichtsstandsvereinbarung sich wendet, dieser schriftlich zugestimmt haben muss3. Auch hier gilt, dass im Rahmen einer laufenden Geschäftsbeziehung zumindest einmal eine derartige Einigung erfolgt sein muss, um in der Zukunft von diesem Formerfordernis aufgrund der laufenden Geschäftsbeziehung abzusehen. Vielfach sehen jedoch belgische Gerichte das Bestehen einer Geschäftsbeziehung als Ersatz für die Schriftform an, was ersichtlich keinen Sinn macht. Denn in diesem Falle wäre die Vorschrift des Art. 25 der Brüssel I a-Verordnung schlichtweg sinnentleert.
Gleichwohl rekurrieren viele belgische Gerichte, selbst nach ausdrücklicher Rüge bezüglich der wirksamen Einbeziehung der AGB und des Fehlens der Schriftform, unbeeindruckt auf die gesetzliche Vermutung des bisherigen Art. 25 Handelsgesetzbuch.
Art. 1348bis Code Civil: Erweiterte Genehmigungsfiktion im unternehmerischen Geschäftsverkehr
Artikel 25 des belgischen Handelsgesetzbuches wurde zwischenzeitlich durch das Gesetz vom 15. April 2018 aufgehoben, das am 1. November 2018 in Kraft getreten ist. Aufgrund des Gesetzes zur Reform des Gesellschaftsrechts und zur Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuches wurde unter dem Titel “Beweise für und gegen Unternehmen” ein Artikel 1348bis in das Bürgerliche Gesetzbuch eingefügt, dessen Absatz 4 wie folgt lautet: “Eine von einem Unternehmen akzeptierte Rechnung hat einen Beweiswert gegen dieses Unternehmen”. Gemäß Artikel 1352 des Bürgerlichen Gesetzbuches befreit diese Rechtsvermutung denjenigen, zugunsten dessen sie besteht, vollständig von der Darlegungs- und Beweispflicht bezüglich der in der Urkunde enthaltenen Umstände.
Artikel 1348bis erweitert den Anwendungsbereich der Vorschrift über Kaufleute hinaus auf sämtliche Unternehmer. Dabei ist nicht einmal der Beweis des Zugangs des Schriftstücks zu fordern, sondern es reicht der Beweis der Versendung.
Daher ist bei Empfang eines aus Belgien stammenden Schreibens äußerste Wachsamkeit geboten. Diese Fiktion eröffnet dem Missbrauch Tür und Tor, allzumal in der Praxis des Unterzeichners belgische Gerichte häufig die Tendenz haben, den Vorrang des europäischen Sekundärrechts und internationaler Abkommen wie dem UN-Kaufrecht zugunsten der Anwendung nationaler Rechtsvorschriften zu verdrängen. Einem Schreiben ist daher unverzüglich, möglichst per Einschreiben, zu widersprechen, wenn man mit dessen Inhalt nicht einverstanden ist.
Fallbeispiel aus der Praxis
Wie weit diese Fiktion gehen kann, zeigt ein aktueller Fall auf meinem Schreibtisch: In der Praxis kommt es häufig vor, dass Personen die in dem Impressum von Unternehmen vorhandenen Daten, insbesondere Firma, Adresse, Name des Geschäftsführers und Mehrwertsteuer-Nummer kopieren, hieraus Briefköpfe fertigen und häufig mittels Bargeschäften in anderen Ländern Europas Waren erwerben. Der Verkäufer verifiziert die Mehrwertsteuer-Nummer, die als aktiv angezeigt wird. Daraufhin wird die Ware gegen Zahlung des Kaufpreises übergeben, wobei die Rechnung aufgrund des ausländischen Sitzes des Käufers und der Angabe der Mehrwertsteuer-Nummer ohne Ausweis der Mehrwertsteuer erfolgt.
Im konkreten Fall ging es um den Erwerb von gebrauchten Traktoren. Hier soll eine deutsche Bauunternehmung vorstellig geworden sein. Es sollen in einem Umfang von ca. 200.000 € Geschäfte über eine Laufzeit von zwei Jahren abgeschlossen worden sein. Offensichtlich hatte der Verkäufer aufgrund der längeren Geschäftsbeziehung zwischenzeitlich Vertrauen geschöpft und die beiden letzten Traktoren auf Rechnung geliefert. Diese Rechnungen wurden nicht bezahlt und daher zum Gegenstand einer Klage gegen das deutsche Bauunternehmen gemacht. Die Klage wurde begründet mit dem Umstand, dass gegen die Rechnungen nicht protestiert worden sei und diese eine Gerichtsstandsvereinbarung zugunsten der Klägerpartei enthielten. Zum Nachweis des Bestehens einer dauerhaften Geschäftsbeziehung wurde die angebliche Kundenhistorie, die eine zweijährige Geschäftsbeziehung auswies, vorgelegt. Zuletzt wurde auf das Mahnschreiben eines belgischen Anwaltes rekurriert, dem ebenfalls nicht widersprochen worden sei. Dabei war das Mahnschreiben nicht einmal per Einschreiben versandt worden, enthielt daher keinerlei Nachweis über den Zugang, und es enthielt eine fehlerhafte Adressierung, da der Straßenname falsch geschrieben war.
Gegen die Klage wurde eingewandt, dass keine Geschäftsbeziehung zu der Klägerpartei bestand, das Unternehmen im Übrigen keine Verwendung für Traktoren habe, sich dementsprechend auch keine Traktoren im Anlagevermögen befänden. Der Umstand, dass gegen die Rechnungen nicht protestiert wurde, erschloss sich ersichtlich aus dem Umstand, dass diese Rechnungen niemals an das beklagte Unternehmen versandt worden waren. Der Behauptung des Zustandekommens des Kaufvertrages und der Einbeziehung der AGB wurde unter Hinweis auf Art. 18 Abs. 1 Satz 2 CISG widersprochen, der angeblichen Gerichtsstandsvereinbarung unter Hinweis auf Art. 25 Brüssel I a-Verordnung. Im Übrigen wurde gerügt, dass die Klägerin keinen Nachweis über die angebliche Lieferung der Traktoren beibrachte. Es fehlte auch an jedweder Korrespondenz über das Zustandekommen eines Kaufvertrages, zumal in Form von Angeboten, ganz zu schweigen von der Identifizierung der natürlichen Person, die vor Ort für das Unternehmen gehandelt haben soll. Spätestens an dieser Stelle wäre Veranlassung gegeben, dass die Anwälte miteinander telefonieren oder das Gericht einen Hinweis über die mögliche Unzulässigkeit, im übrigen Unbegründetheit der Klage erteilt.
Gleichwohl: Eine solche Klage wäre nach belgischem nationalen Recht schlüssig, weswegen die Klägerpartei ihren Anspruch auch trotz obenstehender Einwände vor Gericht weiterverfolgt. Insbesondere hätten die belgischen Gerichte bei Erlass eines Versäumnisurteils weder von Amts wegen die Zuständigkeit geprüft noch die Schlüssigkeit nach UN-Kaufrecht, sondern der Klageanspruch wäre wahrscheinlich, so zumindest die Erfahrung des Unterzeichners, im Wege eines unmittelbar vollstreckbaren Versäumnisurteils zugesprochen worden. Die Beklagte wird sich daher wohl auf das Gerichtsverfahren einlassen und die Angelegenheit in der mündlichen Verhandlung plädieren müssen.
Dieser, zugegeben, Extremfall zeigt auf, dass es im Geschäftsverkehr mit Belgien unabdingbar ist, Schreiben, mit deren Inhalt der Empfänger nicht einverstanden ist, unverzüglich zu widersprechen und gegebenenfalls bereits recht früh einen Rechtsanwalt einzuschalten.
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Vollstreckbarer Auszug aus der Insolvenztabelle aus unwidersprochener vorsätzlicher unerlaubter Handlung berechtigt zur Zwangsvollstreckung unterhalb der Pfändungsfreigrenze
Standpunkte /von Carsten LangeDiese Entscheidung hat der Bundesgerichtshof mit Beschluss vom 04.09.2019 (VII ZB 91/17) getroffen. Sie hat sowohl für die Gläubiger- als auch die Schuldnerseite erhebliche praktische Auswirkungen.
I.
Gläubiger in Insolvenzverfahren können ihre Forderung aus dem Rechtsgrund der vorsätzlich begangenen unerlaubten Handlung anmelden. Über diesen Forderungsgrund, der in der Insolvenztabelle aufgeführt wird, wird der Schuldner durch das Insolvenzgericht informiert. Wenn er gegen diesen Rechtsgrund keinen Widerspruch einlegt, gilt dieser als festgestellt. Dies hat zur Folge, dass derartige Forderungen nach § 302 InsO von der Restschuldbefreiung des Schuldners ausgenommen sind und demzufolge hieraus auch nach Erteilung der Restschuldbefreiung vollstreckt werden kann.
Bereits dies ist ein Vorteil für den Gläubiger, der ihn zu einer derartigen Anmeldung aus unerlaubter Handlung veranlasst. Nunmehr ergibt sich aus dem vorgenannten Beschluss des Bundesgerichtshofes ein weiterer Vorteil einer derartigen Feststellung in der Insolvenztabelle für die jeweiligen Gläubiger. Gemäß § 201 InsO kann ein Insolvenzgläubiger nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens aus der Eintragung in die Tabelle wie aus einem vollstreckbaren Urteil die Zwangsvollstreckung gegen den Schuldner betreiben, wenn seine Forderung festgestellt und vom Schuldner im Prüfungstermin nicht bestritten worden ist.
Für Forderungen aus unerlaubter Handlung – und damit auch diese vorerwähnte Feststellung in der Insolvenztabelle – gilt dabei nach § 850 f Abs. 2 ZPO ein so genanntes Vollstreckungsprivileg. Wird die Zwangsvollstreckung wegen einer solchen Forderung aus vorsätzlich begangener unerlaubter Handlung betrieben, kann das Vollstreckungsgericht auf Antrag des Gläubigers einen pfändbaren Anteil des Arbeitseinkommens festlegen, der unterhalb der Pfändungsgrenzen nach § 850 c ZPO liegt. Das Gericht muss bei dieser Festlegung einer Untergrenze dem Schuldner so viel belassen, wie er für den notwendigen Unterhalt benötigt. Anhaltspunkt hierfür sind die Beträge zum notwendigen Lebensunterhalt aus der Sozialgesetzgebung- und damit nicht die aus der Pfändungstabelle.
Damit haben Gläubiger mit derartigen Titeln aus unerlaubter Handlung (zu denen nunmehr auch die Insolvenztabelle gehört) im Zuge einer Zwangsvollstreckung zwei Vorteile: Sie können tiefer in das Einkommen des Schuldners pfänden und im Zweifel sind sie mit dieser Vollstreckungsmöglichkeit alleine und nicht in der Vollstreckungskonkurrenz mit anderen Gläubigern.
Ob Insolvenzschuldner nach Erteilung der Restschuldbefreiung relevante Einkommen erzielen, die oberhalb der Pfändungsfreigrenze liegen, ist zumindest mit einem Fragezeichen versehen. Insofern wachsen alleine aus dem Grunde, dass ein Anspruch nicht von der Restschuldbefreiung erfasst ist, auch für die Zeit nach Erteilung der Restschuldbefreiung für die betreffenden Gläubiger die Möglichkeiten, ihren Anspruch im Zuge einer Zwangsvollstreckung zu Geld zu machen, nicht in den Himmel. Nunmehr bietet dieser Beschluss des Bundesgerichtshofes neue und erweiterte Möglichkeiten der Gläubiger, ihren Anspruch durchzusetzen.
II.
Aus Schuldnersicht macht dieser Beschluss des Bundesgerichtshofes deutlich, dass sich Schuldner gegen Anmeldungen aus dem Rechtsgrund der vorsätzlichen unerlaubten Handlung in ihrem Insolvenzverfahren zur Wehr setzen müssen, wenn dies Aussicht auf Erfolg hat, weil entgegen der Darstellung aus Gläubigersicht keine vorsätzlich begangene unerlaubte Handlung vorliegt.
Denn ansonsten sind sie auch für die Zeit nach der Erteilung der Restschuldbefreiung diesen Gläubigern ausgesetzt. Dies kann dazu führen, dass sie trotz erteilter Restschuldbefreiung aufgrund von Zwangsvollstreckungsmaßnahmen maximal den notwendigen Lebensunterhalt nach dem Sozialgesetzbuch zur Verfügung haben.
Für eine rechtliche Beratung rund um das Insolvenzrecht stehe ich Ihnen- unabhängig davon, in welcher Form und Position Sie hieran beteiligt sind, gerne zur Verfügung. Sie erreichen mich über meine Mitarbeiterin Frau Schanz unter deren E-Mail-Adresse schanz@daniel-hagelskamp.de oder über unsere Telefon-Zentrale 0241/94621-0
Carsten Lange
Rechtsanwalt
Fachanwalt für Insolvenzrecht
Mediator/Wirtschaftsmediator (DAA)
LegalTech – Künstliche Intelligenz im Recht und in der Justiz Chancen und Risiken
Standpunkte /von Guido ImfeldSymposium 4. Oktober 2019, Keio Universität, Tokio
Teil 1: Die Folgen für die Rechtsanwälte
Guido Imfeld, Rechtsanwalt (DE-Aachen/BE-Liège), Vizepräsident der Rechtsanwaltskammer Köln
Sehr geehrter Herr Vize-Minister Tsuji, sehr geehrte Exzellenzen, sehr geehrte Frau Staatssekretärin Dr. Sudhof, sehr geehrter Herr Dekan Professor Dr. Iwatani, sehr geehrter Herr Präsident Dr. Grotheer, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, sehr geehrte Damen und Herren,
LegalTech und Künstliche Intelligenz (KI) sind Themen, die aktuell im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit stehen, nicht zuletzt aufgrund des OECD-Reports über den massiven Verlust von Arbeitsplätzen von white-collar-jobs durch KI-generierte Automatisierung. Geprägt wird die öffentliche Debatte derzeit von utopischen, häufig dystopischen Szenarien, die eine genaue Bestandsaufnahme und Reflexion dessen, was LegalTech und KI darstellen und was sie zur Zeit und in absehbarer Zukunft leisten können, häufig gesellschaftskritisch überlagern. Gleichzeitig werden die Begriffe LegalTech und KI in der öffentlichen Debatte synonym verwendet. Dies verstellt den Blick auf die Chancen und Herausforderungen, die hiermit, insbesondere für die Anwaltschaft verbunden sind.
Eine Begriffsklärung tut daher Not. Sodann soll die Schnittstelle von LegalTech und KI zum Beruf des Rechtsanwaltes reflektiert werden, um danach einen Ausblick in die Zukunft nebst Handlungsempfehlung zu wagen.
- Standortbestimmung
Erlauben Sie mir, mich Ihnen vorzustellen, um deutlich zu machen, aus welcher Perspektive ich zu Ihnen spreche. Ich bin seit 1996 Rechtsanwalt und fast ausschließlich im internationalen Wirtschaftsrecht tätig, mit Schwerpunkt im deutsch-belgischen Recht, da ich in Aachen, Deutschland und Lüttich, Belgien als Rechtsanwalt zugelassen bin. Gleichzeitig bin ich seit zwölf Jahren Vizepräsident der Rechtsanwaltskammer Köln, die als fünftgrößte der 28 Rechtsanwaltskammern Deutschlands mit Stand 2018 12.876 der bundesweit 165.857 zugelassenen Anwälte als Mitglieder zählt.
Die deutsche Anwaltschaft ist geprägt von dem Prinzip der Selbstverwaltung durch die regionalen Rechtsanwaltskammern und ihrem Dachverband, der Bundesrechtsanwaltskammer. Die Rechtsanwälte stehen nicht unter der Aufsicht eines Justizministeriums. Sie sind daher unabhängig, frei und selbstverwaltet.
Wenn ich heute zu Ihnen spreche, dann auch als Partner einer mittelständischen Kanzlei mit ca. 20 Berufsträgern, die den Herausforderungen von LegalTech und KI ausgesetzt ist und die aus meiner Altersperspektive noch ein Geschäftsmodell entwickeln muss, das für 20 Jahre taugt, was in Kategorien von LegalTech und KI eine Ewigkeit ist. Mein Sohn hat vor zwei Wochen sein Studium in Köln aufgenommen und braucht ein Geschäftsmodell für die nächsten 45 Jahre.
Als Vorstand der Rechtsanwaltskammer vertrete ich die Interessen der Rechtsanwaltschaft, die sich in Deutschland als Organ der Rechtspflege versteht und als solches das Privileg genießt, aber auch beansprucht, für ihre freiberuflichen Dienste ein Monopol der Rechtsberatung nach Maßgabe des Rechtsdienstleistungsgesetzes zu haben. Dies gilt es aus der Sicht der Rechtsanwaltschaft zu verteidigen, um die Tätigkeit des Anwaltes nicht auf eine standardisierte und austauschbare Dienstleistung, die nicht dem Gemeinwohl verpflichtet ist, zu reduzieren. Gleichzeitig eröffnen LegalTech und KI durch Skalierung und die Entwicklung neuer, digitalbasierter Geschäftsmodelle die Möglichkeit, den Zugang für Rechtssuchende zu bezahlbaren Rechtsdienstleistungen (access to justice) zu verbessern, eröffnet dadurch jedoch ein Konfliktfeld mit dem Rechtsberatungsmonopol der Anwälte.
Dabei muss berücksichtigt werden, dass die Monopole freiberuflicher Dienstleistungen für Ärzte, Architekten, Ingenieure, Steuerberater, Wirtschaftsprüfer und Rechtsanwälte Gegenstand eines gesellschaftlichen Konsenses sind, der aber nicht selbstverständlich ist (bereits in unserem Nachbarland Schweiz gibt es kein Monopol der Anwälte für Rechtsberatung). Es genügt daher nicht, das Monopol zu verteidigen, sondern es muss auch im Sinne gesellschaftlicher Akzeptanz gerechtfertigt werden. Deshalb dürfen wir uns der Entwicklung neuer Geschäftsmodelle, die internet-basierte kostengünstige Rechtsdienstleistungen, häufig unter Vereinbarung eines den deutschen Anwälten verbotenen Erfolgshonorars, erbringen und daher den Zugang insbesondere von Konsumenten zum Recht in einfach gelagerten Sachverhalten gewährleisten, nicht reflexartig verschließen. Dieses Spannungsverhältnis gilt es zu reflektieren und auszuhalten.
- Begriffsbestimmung
Künstliche Intelligenz ist nicht gleich LegalTech. LegalTech ist letztlich keine umwerfende Neuerung, sondern der Einsatz von digitalisierten Werkzeugen, die analoge Werkzeuge ersetzen. Anders dürfte dies bei der Künstlichen Intelligenz sein, die geeignet ist, die bisherigen Protagonisten vom Markt zu verdrängen.
2.1. LegalTech
LegalTech kann definiert werden als Standardisierung und Repräsentation von Wissen in strukturierten, maschinenverwertbaren Formaten, die darauf aufbauende Automatisierung von Prozessen mittels Software und vernetzten Computern und – in letzter Folge – die Disintermediation von institutionellen Akteuren, d. h. einen Prozess des Bedeutungsverlustes von Vermittlern in einem Wirtschaftssystem, die ehemals den Zugang zu diesem Wissen und seiner praktischen Anwendung monopolisierten.
Vor ca. 150 Jahren hatte der Jurist seinen, hoffentlich scharfen, Verstand, Papier, einen Stift und Gesetzbücher sowie die üblichen Kommentierungen oder Lehrbücher. Der Stift wurde irgendwann durch die 1868 erfundene Schreibmaschine ersetzt, die ihrerseits durch elektrische Schreibmaschinen mit Korrekturfunktionen verbessert und schließlich durch den Computer mit Textverarbeitungsprogrammen verdrängt wurde. Dasselbe gilt für Kopiermaschinen und Scanner, für Brief/Telefax und E-Mail. Gesetzbücher und Kommentare werden durch Datenbanken mit Suchfunktionen ersetzt. Strukturell sprechen wir über das Gleiche. Der Ersatz analoger Werkzeuge durch digitale führt zwar zu quantitativen und qualitativen Veränderungen des anwaltlichen Berufes, zur Optimierung von Prozessen, letztlich aber nicht zu wirklich strukturellen Umbrüchen.
Mit diesen Werkzeugen lässt sich die juristische Arbeit jedoch viel effektiver gestalten. Kosten werden reduziert, Qualität wird gesteigert, gespeichertes Wissen ist transparent verfügbar, Prozesse und Standardfälle können vereinheitlicht werden. Der demokratische Zugang zu Datenbanken ersetzt den limitierten Zugang zu eigenen oder Universitätsbibliotheken.
Gleichzeitig gibt es aber auch einen Rückkopplungseffekt. Parallel zu Zeit- und Kosteneffizienz-Vorteilen bzw. eigentlich infolgedessen wächst der Kosten- und Zeitdruck auf die Anwälte dramatisch. Erwünscht ist Feedback in Echtzeit. Viele Unternehmen fordern über elektronische Medien (E-Mail, Skype, Handy) eine permanente Verfügbarkeit des Anwalts. Und da dies anders als früher jetzt technisch möglich ist, wird es auch seitens der Mandanten vorausgesetzt. Ich erinnere mich an eine Diskussion in Lille mit dem CEO eines großen französischen Telekommunikationskonzerns, der es als selbstverständlich ansah, dass sein Anwalt ihm auch samstags um 22:00 Uhr antwortet, wenn er eine Frage hat. Meiner Antwort, dass ich ihm um diese Uhrzeit jederzeit aus etwaiger Untersuchungshaft helfen würde, jedoch bei einer ersichtlich nicht dringenden Frage eventuell erst am kommenden Montag antworten würde, begegnete er mit völligem Unverständnis. Das Konzept des unabhängigen Anwalts, der dem Mandanten auf Augenhöhe begegnet, war ihm ersichtlich fremd. Die Unabhängigkeit unseres Berufsstandes schwindet, auch teilweise das Ansehen. Etablierte gesetzliche Honorierungsmodelle wie das deutsche Rechtsanwaltsvergütungsgesetz, das Mindeststandards der Abrechnung zumindest noch bei gerichtlichen Verfahren voraussetzt, werden in der Praxis infrage gestellt, sodass sich die Kostenreduzierung in der anwaltlichen Fertigung nicht unbedingt in einer höheren Gewinnmarge ausdrückt. Rechtliche Beratung wird zur Ware vergegenständlicht. Vor- bzw. Nachteile liegen zwar auf beiden Seiten. Aber der Zeit- und Wettbewerbsdruck hat in den letzten zehn Jahren erheblich zu- und nach meiner Auffassung auch ungesunde Ausmaße angenommen. Ich bin mir bei LegalTech nicht immer sicher, ob nicht wir Anwälte eher auf der Verliererseite stehen. Einige von uns mögen sich erinnern: Papier und Stift, Briefe per Post …
Nicht ersetzt wird bei dem Einsatz von LegalTech jedoch der juristische Verstand. Es gilt immer noch: „A fool with a tool is still a fool“. Der Kopf wird nach wie vor gebraucht. Er wird durch LegalTech unterstützt, nicht ersetzt. Arbeiten im Recht verlangt Methode, Vision und Kreativität, aber auch ein rechtliches Ethos. Anwälte sind keine bloßen Dienstleister im Auftrag des Mandanten und sollten sich auch – das ist ausdrücklich auch als Kritik an der Vermarktung unseres eigenen Berufsstandes gemeint – nicht als solche darstellen. Sicher, wir leisten Dienste, sind aber gleichzeitig Organ der Rechtspflege, das weder ausschließlich die eigenen Interessen noch die des Mandanten, sondern auch der Justiz und Gerechtigkeit im Auge behalten muss. Wir müssen einen kritischen Abstand wahren.
Auf der positiven Seite der Bilanz von LegalTech steht hingegen zweifelsohne, dass die Digitalisierung die Schwelle des Zugangs zu der Profession für Berufsanfänger gesenkt hat und damit zur Demokratisierung des Berufsstandes beiträgt. Mit einem Laptop mit Spracherkennungssystem, dem Zugang zu juristischen Datenbanken wie juris oder Beck online, einem E-Mail Account und Drucker ist heutzutage bereits eine Kanzlei zu betreiben, ohne die sehr große Hürde der Investitionen in eine noch vor 25 Jahren übliche Kanzleiausstattung mit Räumlichkeiten und Sekretariat nehmen zu müssen. Die Außendarstellung übernimmt heute eine Internetseite. Google Ad erlaubt die suchmaschinenoptimierte Bewerbung von Kompetenz. Virtuelle Netzwerke wie LinkedIn ersetzen persönliche Kontakte und Privilegien.
Anwaltliche Dienstleistung wird vergleichbarer, transparenter. Digitale Geschäftsmodelle helfen, den Zugang zum Markt, gleichzeitig auch den Zugang der Rechtsuchenden zum Recht zu verbessern, wie zum Beispiel flightright.de, bankright.de, claimright.de etc., die Fälle bearbeiten, die zu angemessenen Kosten von Anwälten gar nicht mehr geleistet werden können.
Die Anwaltschaft wird sich dem Einsatz solcher digitalen Werkzeuge und Plattformen nicht verschließen können. Sie sollte auch digitale Geschäftsmodelle, die weiten Kreisen von Rechtsuchenden in geringwertigen Streitsachen einen effektiven Zugang zum Recht ermöglichen, nicht unter Berufung auf das Rechtsdienstleistungsmonopol zu verhindern suchen, sondern zulassen. Ansonsten riskieren wir, dass das Rechtsdienstleistungsmonopol in den wesentlichen Bereichen, wo der Anwalt seiner Rolle als Organ der Rechtspflege gerecht werden kann und muss, vom gesellschaftlichen Konsens nicht mehr getragen wird.
Wir müssen daher die Rolle des Rechtsanwalts als Organ der Rechtspflege in einer demokratischen Gesellschaft und das darin zur Zeit noch verankerte Privileg des Rechtsdienstleistungsmonopols im Wege einer kritischen Bestandsaufnahme nach den Kriterien „hinreichend, notwendig und angemessen“ reflektieren. Wenn die Unabhängigkeit des Anwaltes als Organ der Rechtspflege eine der Voraussetzungen für die rule of law ist, dürfen wir vor allem nicht zulassen, dass Recht durch LegalTech vollständig ökonomisiert wird.
Denn wenn diese Gefahr bereits durch LegalTech droht, werden wir als Berufsstand der Herausforderung durch Künstliche Intelligenz nicht standhalten.
2.2. Künstliche Intelligenz
In der öffentlichen Debatte ist Künstliche Intelligenz eine Schimäre, auf die utopische oder dystopische Erwartungen projiziert werden. Es ist die Angst vor der eigenen Überflüssigkeit, die die Debatte treibt.
KI kann als Algorithmen, d. h. in einzelne Schritte heruntergebrochene Anweisungen, die von einem Computer maschinell abgearbeitet werden können und in Software abgebildet sind, sowie Daten, die von eben jenen Systemen verarbeitet werden, definiert werden. Den Daten kommt im Kontext von KI-Systemen dabei eine besondere Rolle zu: Sie fungieren nicht als reines Substrat, das im Eingabe-Verarbeitungs-Speicherungs-Ausgabe-Schema durch das System hindurchläuft, sondern sie dienen vielmehr als eine Art Baustoff für ein künstlich intelligentes System, da solch ein System im wesentlichen Verhalten aus eingespeisten Datenmustern repliziert. Das zentrale Versprechen Künstlicher Intelligenz liegt in der Automatisierung kognitiver Aufgaben. Ein konstitutives Element der KI ist dabei das maschinelle Lernen.
Regelbasierte Textverarbeitung, Schachcomputer, vernetzte Datenbanken sind genauso wenig Künstliche Intelligenz wie die „Auto Suggest“ oder „Auto Correct“ Funktionen, selbst wenn letztere wohl dadurch, dass sie sich auf den Benutzer einstellen, ein selbstlernendes Element beinhalten. Pragmatisch könnte man den Terminus Künstliche Intelligenz mit „überraschenden Fähigkeiten von Computern“ übersetzen[5]. Dies greift aber letztlich zu kurz, weil das, was uns noch in den neunziger Jahren überraschte, heute als völlig normal, häufig als datenbankorganisierte Vernetzung von Informationen wahrgenommen wird. Im Gegensatz zu meinen Großeltern würde heutzutage niemand einen Taschenrechner als KI im Sinne von „überraschend“ bezeichnen. Kinder halten berührungsempfindlichen Bildschirme bereits für normal und führen Unterhaltungen mit Siri.
KI-Systeme existieren bereits und werden vor allem im Risikomanagement, in der Bilderkennung, der Textkategorisierung und bei der Bewältigung standardisierter kognitiver Aufgaben eingesetzt. Standardisierte, kognitive Aufgaben sind Aufgaben, die häufig anfallen und stets auf dieselbe Art und Weise bearbeitet werden. Deep Blue als Schachcomputer konnte dies teilweise. IBM‘s Computer Watson kann jedoch in einer neuen Qualität selbstständig Muster als Standards erkennen und eigenständig lernen, die damit verbundene Aufgabe kognitiv zu bewältigen.
Wir sind allerdings noch Jahre entfernt vom Ersatz menschlicher kognitiver Intelligenz durch Künstliche Intelligenz in den Rechtswissenschaften. Sicher, es gibt Suchtechnologien zur Identifikation relevanter Dokumente oder Textstellen, Werkzeuge zur Extraktion strukturierter Informationen und es gibt mittlerweile Werkzeuge zur Entscheidungsvorhersage und Risikobewertung durch Erfassung riesiger Datenmengen, zum Beispiel Erfolgsaussichten von Berufungen oder Revisionen in bestimmten Rechtsgebieten.
Man darf allerdings nicht übersehen, dass es zuvor notwendig ist, Watson mit riesigen Datenmengen zu versehen und ihn zu programmieren. Als Watson sein menschliches Gegenüber in der TV-Spielshow Jeopardy oder Ke Jie bei einem Go-Turnier schlug, lag dies auch an dem Input hunderter hochkompetenter Ingenieure und tausenden von Stunden Trainingsleistung. Auf der Ebene von Rechtsanwaltskanzleien kann dies gar nicht geleistet werden.
Es gibt Ansätze. 2017 haben z.B. Jura- und Informatikstudierende innerhalb von drei Wochen mit der Aufgabenstellung “Create a web app!” gemeinsam mit dem Watson Knowledge Studio und dem Sprachtool ein Lawnet-Tool entwickelt, das Gerichtsentscheidungen nach Aktenzeichen, Normen und Verweisen durchsucht und den Erfolg und Nichterfolg von Revisionen nachverfolgt. Mit LawStats wurden Statistiken entwickelt, welche Landgerichtsentscheidungen erfolgreich oder nicht erfolgreich mit der Revision angefochten werden konnten. Die erste Variante dieses Tools funktionierte dabei nicht ganz wie gewünscht, zu viele unklare Entscheidungen verwässerten das Ergebnis. 2018 ist mit LawStats 2.0 aber ein funktionierendes Revisionstool entstanden[6]. Aber auch hier sprechen wir nicht von Rechtsanwendung, sondern eher von Statistik und quantitativer Risikoanalyse.
KI-Systeme können bereits fast selbsttätig Unterstützung bei standardisierten Prozessen wie einer financial oder tax due diligence leisten. Es gibt Werkzeuge zur standardisierten Vertragsanalyse. Dies ist aber noch nicht Rechtsberatung, sondern datenbankbasierte Unterstützung in der Rechtsberatung. Zurzeit machen diese Tools und Apps im wesentlichen sogenannte Paralegals, anwaltliche Hilfskräfte arbeitslos, und reduzieren die Anzahl der billable hours der Berufsträger.
Bis Siri oder Alexa in Form eines Chats, d. h. aufgrund schrift- oder vokalbasierter nicht standardisierter Eingabe in das System ein juristisches Muster, also ein rechtliches Problem identifizieren, und dann eigenständig durch Rückgriff auf Datenbanken nach Maßgabe einer zu ermittelnden materiellen Rechtsordnung lösen können, wird noch sehr viel Zeit vergehen.
- Ausblick
Aber diese Zeit wird kommen. Wir wissen nur nicht, wann, in 10, 20 oder 50 Jahren? Eher früher als später. Da die sich aus dem Einsatz von KI ergebenden Herausforderungen jedoch bereits jetzt offen liegen, lohnt sich der Blick in die Zukunft, um zu reflektieren, wie die Anwaltschaft als Profession im Kontext des Contrat Social hiermit umgeht.
Meine These ist: Watson, Siri und Alexa werden über kurz oder lang anwaltliche Dienstleistung bei der Lösung einfacher und mittelschwerer standardisierter Rechtsfälle ersetzen können, nicht aber Rechtsanwälte und ihre Beratung, wenn diese sich nicht nur als Dienstleister verstehen und vermarkten, sondern als Berufsträger, die die core values der Rechtsanwaltschaft leben und verteidigen: Unabhängigkeit, Verschwiegenheit, Kompetenz und Loyalität.
Da Märkte jedoch häufig preisgetrieben sind, täte die Anwaltschaft gut daran, selbst im Bereich LegalTech und KI Protagonist zu werden und mit den Entwicklungen offensiv umzugehen. Bislang werden Angebote an LegalTech oder Künstlicher Intelligenz fast ausschließlich von LegalTech-Unternehmen gestellt, nicht aber von der Anwaltschaft. Es ist ein lukrativer Geschäftszweig, der Milliardeninvestitionen anzieht, bei dem auch Anwälte mitwirken, aber die Anwaltschaft über ihre Standesvereinigungen als solche nicht treibende Kraft ist. Die europäische Standesvereinigung, CCBE, hat 1 Million Mitglieder. Dies ist ein immenses Potenzial für crowdfunding.
In Diskussionen mit anderen Standesvertretern wird mir hierauf häufig entgegnet, dass die Erbringung wirtschaftlicher Tätigkeiten nicht Aufgabe der Standesvertretungen ist und im Übrigen das gesetzlich verankerte Monopol für Rechtsdienstleistungen ausreicht, um nicht-anwaltliche Wilderer aus unserem Revier zu vertreiben. Das erste Argument geht an der Sache vorbei, denn Initiieren heißt nicht notwendigerweise Betreiben. Meines Erachtens ist es jedenfalls Aufgabe der Standesvertretungen, Impulse zu geben. Das zweite Argument ist zu hinterfragen.
Denn es stellt sich die Frage, ob automatisierte Rechtsdienstleistung überhaupt tatbestandlich gegen das Rechtsdienstleistungsgesetz verstoßen kann. Die Rechtsdienstleistung ist gemäß dem Rechtsdienstleistungsgesetz den Anwälten vorbehalten. § 2 Abs. 1 des Gesetzes definiert diese wie folgt:
(1) Rechtsdienstleistung ist jede Tätigkeit in konkreten fremden Angelegenheiten, sobald sie eine rechtliche Prüfung des Einzelfalls erfordert.
Die rechtliche Prüfung des Einzelfalls bezeichnen wir als Subsumtion. Die Subsumtion ist der Vorgang, bei dem man einen Begriff unter einen anderen ordnet. In der Rechtswissenschaft wird der Begriff als Anwendung einer Rechtsnorm auf einen Lebenssachverhalt („Fall“), das heißt als Unterordnung des Sachverhaltes unter die Voraussetzungen der Norm, verstanden. Rechtsnormen haben regelmäßig eine Wenn-Dann-Struktur. Sie zerfallen in einen Tatbestand (Wenn-Teil) und eine Rechtsfolge (Dann-Teil). Der Tatbestand setzt sich meist aus mehreren Tatbestandsmerkmalen (z. B. „fremd“, „Eigentum“) zusammen. Liegen die erforderlichen Tatsachen vor, so ist das entsprechende Tatbestandsmerkmal erfüllt. Sind alle Tatbestandsmerkmale gegeben, so tritt die Rechtsfolge ein. Wenn Sie das an einen Algorithmus erinnert, liegen Sie nicht sehr falsch.
Wird diese Leistung über einen Algorithmus erbracht wird, stellt sich die Frage, ob der Begriff der „Tätigkeit“ erfüllt ist. Kann ein Computer tätig sein? Der Duden definiert „Tätigkeit“ als „das Tätigsein, das Sich Beschäftigen mit etwas“. Dies scheint nahe zu legen, dass es ein bewusster und damit menschlich-kognitiver Vorgang ist. Algorithmen-basierte Rechenvorgänge wären daher dem Anwendungsbereich des RDG entzogen. Mindestens dürfte die Gefahr einer Regelungslücke vorliegen.
Die liberale Partei in Deutschland, FDP, hat daher am 17.04.2019 einen Gesetzesentwurf vorgelegt, der § 2 Abs. 1 RDG wie folgt ergänzen soll:
„Eine Tätigkeit im Sinne des Satzes 1 kann ganz oder teilweise automatisiert erbracht werden.“
Damit wären Algorithmen-basierte Rechtsdienstleistungen vom Gesetz umfasst und einem Erlaubnisvorbehalt unterstellt. Dies würde eine Kontrolle der automatisierten Rechtsdienstleistungen erlauben und damit die Gewährleistung von Mindeststandards.
Dies könnte einem vollständigen Kontrollverlust der Rechtsanwaltschaft aufgrund des Einsatzes von KI entgegenwirken. Denn LegalTech und KI sind Algorithmen-basiert. Wir kennen diese Algorithmen jedoch nicht. Wie und vor allem nach welchen Kriterien funktionieren sie? Wie lösen sie Ziel- und Interessenkonflikte? Wenn in Zukunft eine Vielzahl von Rechtsfällen über KI ohne menschliches Zutun gelöst werden könnten, stellt sich daher dringend die Frage, welche Interessengruppen diese Algorithmen verantworten.
Einer Delegation der Bundesrechtsanwaltskammer wurde zum Beispiel im Februar 2018 bei dem Besuch des Shanghai High People’s Court eine Software vorgestellt, die die Urteile eines Richters auf logische Inkohärenzen und abweichende Urteile des eigenen Gerichtshofs oder der Obergerichte prüft. Diese Software kann sehr hilfreich sein, kann aber auch trotz des zivilrechtlichen Hintergrunds ein Mittel zur sozialen oder politischen Kontrolle der Richter und der Rechtsprechung werden. Auch werden möglicherweise Interessenverbände, ob direkt oder durch outgesourcte Unternehmen, durch die Bereitstellung von KI-Software Einfluss auf die Rechtsprechung nehmen wollen, zum Beispiel, wenn Versicherungsunternehmen Software zur Bearbeitung von Arzthaftpflichtfällen oder Verkehrsunfällen oder Arbeitgeberverbände eine internetbasierte Plattform zur Lösung arbeitsrechtlicher Fallgestaltungen bereitstellen, ohne dass dies transparent gemacht wird oder überhaupt kontrolliert werden kann.
Aufgrund des mit KI einhergehenden Kostendrucks und der langfristigen Verdrängung anwaltlicher Akteure aus gewissen Marktsegmenten besteht daher die naheliegende Möglichkeit eines Kontrollverlusts bereits auf der Ebene des anwaltlichen Handwerkszeugs, der Subsumtion. Diesem Kontrollverlust kann dadurch begegnet werden, dass die Anwaltschaft selbst KI-basierte Lösungen generiert.
Damit würde sie ihre Unabhängigkeit stärken. Rechtsdienstleistungen würden weiter demokratisiert werden, weil Rechtssuchende die Möglichkeit hätten, auf von der Rechtsanwaltschaft gestellte Computerprogramme zur Lösung standardisierter Rechtsfälle zuzugreifen. Kleine und mittelständische Kanzleien könnten dem Wettbewerbsdruck von Drittanbietern und großen law firms mit tausenden von Anwälten, die die finanziellen und personellen Ressourcen zur Entwicklung solcher Programme hätten, entgegentreten.
Mittel- bis langfristig wird sich aber auch damit nicht verhindern lassen, dass die Rechtsanwälte, die standardisierte Fälle, zum Beispiel Verkehrsrecht, Mietrecht, Arbeitsrecht, Reiserecht etc. bearbeiten, in ihrer beruflichen Existenz gefährdet werden. Dies ließe sich nur mit einem absoluten Monopol der Rechtsanwälte für Rechtsdienstleistungen erreichen. Allerdings wäre meine These, dass ein solches Unterfangen spätestens unter Berücksichtigung einer weltweiten digitalen Vernetzung genauso viel Erfolg hätte wie der britische Red Flag Act von 1865, mit dem mutmaßlich auf Betreiben einer Lobby von Pferdebesitzern und Eisenbahngesellschaften Automobilisten gezwungen waren, ihrem Fahrzeug einen Fußgänger mit einer roten Flagge voraus laufen zu lassen. Geschätzt gibt es in der EU heute 6,9 Millionen Pferde und 290 Millionen Kraftfahrzeuge. Soweit zum Erfolg des Red Flag Act.
- Ergebnis
4.1.
LegalTech unterstützt anwaltliche Tätigkeit. Sie kann zu Konkurrenz zur traditionellen Rechtsberatung durch Anwälte führen, ist aber vor allem als unterstützendes Werkzeug zu verstehen.
4.2.
LegalTech erlaubt die Entwicklung Internet-basierter Anwendungen, die kostengünstig und effizient standardisierte Rechtsfälle lösen. Die Anwaltschaft sollte dem nicht ablehnend gegenüberstehen, um dem Postulat des Zugangs zum Recht zur Durchsetzung zu verhelfen in den Bereichen, in denen vor allem Konsumenten keinen effektiven Zugang zum Recht mehr haben. Eine engstirnige Verweigerungshaltung könnte die Aufkündigung des contrat social, der den Anwälten das Monopol der Rechtsberatung gewährt, zur Folge haben. Wie schnell Traditionen und als unverbrüchlich wahrgenommene Standards infrage gestellt werden, sehen wir gerade im Bereich der internationalen Handelspolitik, des Brexit und den Angriffen populistischer Parteien auf die Institutionen der EU.
4.3.
KI sollte durchaus als Herausforderung verstanden werden. KI kann anwaltliche Dienstleistung ersetzen. Durch Einbeziehung in das Rechtsdienstleistungsgesetz wird Rechtsberatung mittels KI erlaubt, kann aber dadurch qualitativ reguliert werden. Die Anwaltschaft sollte jedoch Protagonist und nicht nur Beobachter sein, um nicht die Kontrolle über diese Werkzeuge zu verlieren und damit ihre Unabhängigkeit als Organ der Rechtspflege zu wahren. Letzteres ist notwendig, da eine unabhängige, kritische Anwaltschaft unabdingbare Voraussetzung für die Gewährleistung der rule of law ist.
Guido Imfeld
Grundlegende Reform des belgischen Gesellschaftsrechts
Standpunkte /von Guido ImfeldSeit dem 01.05.2019 ist das neue belgische Gesellschaftsgesetzbuch (Code des sociétés et associations) in Kraft.
Es handelt sich bei diesem am 28.02.2019 verabschiedeten und am 23.03.2019 veröffentlichten Gesetz um eine tiefgreifende Strukturreform mit weitreichenden Auswirkungen. Es wäre nicht verfehlt, von einem Paradigmenwechsel zu sprechen.
1.
Die Unterscheidung zwischen zivilen und Handelstransaktionen wird aufgegeben. Auch der Begriff des Kaufmanns bzw. des kaufmännischen Geschäfts wird im Einklang mit dem 20. Buch des Wirtschaftsgesetzbuches (Code de droit économique) aufgegeben zu Gunsten des Begriffs der Unternehmerschaft (entreprise).
2.
(Handels-) Gesellschaften und Vereinigungen werden nicht mehr nach Maßgabe der ihnen erlaubten Geschäfte unterschieden, sondern nach dem Kriterium ihrer Finalität. Eine Gesellschaft definiert sich künftig dadurch, dass sie ihren Gewinn an die Gesellschafter ausschüttet, während eine solche Ausschüttung bei Vereinigungen, wie z.B. einem Verein, unzulässig ist.
Deshalb wurde auch das Unterscheidungskriterium der Gewinnerzielungsabsicht vs. gemeinwohlorientierten Unternehmen aufgegeben. Die Gesellschaft mit sozialer Finalität (la société à finalité sociale) wurde deshalb durch das neue Gesetz abgeschafft, wobei sich allerdings Genossenschaften (sociétés coopératives/SC) ohne Änderung ihrer Gesellschaftsform als Sozialunternehmen (entreprises sociales/ES) registrieren lassen können.
3.
Auch das Unterscheidungskriterium einer Gesellschaft, die öffentlich um Kapital wirbt (société faisant appel public à l´épargne) wird aufgegeben zu Gunsten der börsennotierten Gesellschaft (société côtée). Letztere wird nunmehr so definiert, dass sie auf einem geregelten Finanzmarkt registriert ist.
4.
Ein Teil der Gesellschaftsformen wird umbenannt, ein anderer Teil der Gesellschaften und Vereinigungen entfällt ersatzlos.
Die Gesellschaft bürgerlichen Rechts (société de droit commun) heißt nunmehr „einfache Gesellschaft“ (société simple). Die Innengesellschaft oder Stille Gesellschaft (société interne) entfällt. Die société simple kann temporären Charakter haben.
Die Landwirtschaftsgesellschaften (SCRI), wie auch die wirtschaftlichen Interessenvereinigungen (groupements d´intérêt économique/GIE) entfallen. Die bisherigen landwirtschaftlichen Gesellschaften können sich jedoch als solche unter dem Kürzel „entreprise agricole“ (EA) durch das Wirtschaftsministerium registrieren lassen.
Die europäische wirtschaftliche Interessenvereinigung (groupement européen d´intérêt économique) wird von der Reform jedoch nicht berührt, da es sich um eine gegenüber dem nationalen Recht vorrangige Rechtsform aufgrund europäischen Sekundärrechts handelt. Diese wird daher gemäß den Vorschriften des Buches XVIII des neuen Gesellschaftsgesetzbuches geregelt.
5.
Anders als im deutschen Recht werden GmbH nicht als Kapitalgesellschaften, sondern als Personengesellschaften qualifiziert, daher ihre bisherige Bezeichnung als PGmbH – Personengesellschaft mit beschränkter Haftung oder SPRL – société personnelle à responsabilité limitée. Die sogenannte SPRL unipersonnelle, also Einpersonengesellschaft, existiert nicht mehr, wie auch die SPRL Starter, die der deutschen UG entspricht. Dies hängt, wie unten auszuführen sein wird, damit zusammen, dass die GmbH künftig kein Mindestkapital mehr aufweisen muss, so dass die SPRL Starter und die SPRL unipersonnelle, bei der eine Durchgriffshaftung auf den einzigen Gesellschafter bestand, entfallen.
Auch die SCA, d.h. die Kommanditgesellschaft auf Aktien (société en commandit par action) wurde obsolet.
6.
Nach der Reform gibt es daher folgende Gesellschaftsformen:
- die société simple, also die einfache bürgerliche Gesellschaft,
- la société au nom collectif (SNC), die, mutatis mutandis, der OHG entspricht,
- die Gesellschaft mit beschränkter Haftung (société à responsabilité limitée), künftig SRL abgekürzt,
- die Kooperative (société coopérative – SC),
- die Aktiengesellschaft (la société anonyme – SA),
- die Societas Europaea (SE),
- die europäische Kooperative (SCE),
- die europäische wirtschaftliche Interessenvereinigung, groupement européen d´intérêt économique (GEIE),
- die faktische Gesellschaft, l´association de fait,
- den Verein und den internationalen Verein (association sans but lucratif et association internatiale sans but lucratif)
- die Privatstiftung, fondation privée (FP)
- die öffentliche Stiftung – fondation d´utilité public (FUP).
7.
Wesentliche Änderungen sind bei der Gesellschaft mit beschränkter Haftung zu verzeichnen, künftig SRL. Hier vor allem der völlige Entfall eines Mindestkapitals zu erwähnen, da der Gesetzgeber sich der Einsicht nicht verschließen konnte, dass auch das bisherige Mindestkapital von 18.750,00 Euro im Insolvenzfall kaum jemals effektiv den Gläubigern zur Verfügung stand.
Ungeachtet dessen kann die Gesellschaft ein frei gewähltes Kapital ausweisen.
Trotz des Entfalls des Mindestkapitals entfällt nicht die Unterscheidung zwischen einer Befreiung des gezeichneten Kapitals durch Stammeinlagen in Bar oder in natura mit der fortbestehenden Folge, dass bei Naturaleinlagen ein Wirtschaftsprüferattestat hinsichtlich dessen Wertes, nicht zuletzt zum Schutz der Mitgesellschafter bei Bemessung der jeweiligen Gesellschaftsanteile, fortbesteht.
Die Geschäftsanteile einer SRL können nunmehr ohne Zustimmungserfordernis abgetreten werden, wenn dies im Gesellschaftsvertrag so vorgesehen ist.
8.
Bei der Aktiengesellschaft entfällt das Mindestkapital hingegen nicht, da dies europarechtlich vorgegeben ist.
Der belgische Gesetzgeber erlaubt jedoch nunmehr die Wahl zwischen dem monistischen Modell, das bisher vorherrschte, d.h. eines Verwaltungsrats (conseil d´adminstration), der in aller Regel aus drei Personen bestand, die auch die Führung der Geschäfte übernahmen, jedoch die Möglichkeit hatten, sich einer Art Prokurist zu bedienen, der als délégué à la gestion journalière bezeichnet wurde; und zum anderen dem dualistischen Modell, das in Deutschland vorherrscht, d.h. ein Vorstand, der von einem Aufsichtsrat überwacht wird.
Anders als bisher kann auch die Aktiengesellschaft nunmehr einen einzelnen Verwaltungsrat haben und muss nicht mehr ein Kollegium aufweisen. Dies erleichtert auch die Möglichkeit einer Ein-Personen-Aktiengesellschaft.
Weitere Gestaltungsfreiheiten werden zugestanden im Hinblick auf die statuarische Verteilung der Stimmrechte.
9.
Geradezu revolutionär ist der Schwenk des belgischen Rechts von der Sitz- zur Gründungstheorie.
Zur Erinnerung: Die meisten europäischen Staaten vertreten die sogenannte Sitztheorie. Dies bedeutet, dass eine Gesellschaft ihren Sitz dort hat, wo die Entscheidungen der Gesellschaft getroffen werden, d.h. in aller Regel, wo die Geschäftsführung sitzt.
Dies kann an dem Beispiel der Entscheidung Überseering BV des EuGH (05.11.2002 – C-208/00) verdeutlicht werden: Die niederländische Gesellschaft Überseering BV führte am Überseering in Düsseldorf ein Bauvorhaben durch und klagte aufgrund des Bestehens von Mängeln gegen einen Bauunternehmer. Die Geschäftsführung der BV befand sich jedoch nicht mehr in den Niederlanden, sondern in Düsseldorf. Die Instanzgerichte gingen davon aus, dass dadurch der Sitz der Gesellschaft effektiv in Deutschland war. Da es in Deutschland jedoch keine BV gab und eine Gründung des Äquivalents wie der GmbH unterblieben war, hatte die Gesellschaft letztlich den Status einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts. Da diese nicht rechtsfähig war, wurde die Aktivlegitimation für den Prozess verneint. Auf Vorlage zum EuGH entschied dieser, wie auch in den Rechtssachen Daily Mail, Centros und Inspire Art, dass zumindest für die Länder, die die Gründungstheorie vertraten, der Sitz der Geschäftsführung unbeachtlich ist und der Aufnahmestaat, hier Deutschland, die Gründungstheorie, die in den Niederlanden vorherrscht, akzeptieren musste. Damit war die Überseering BV aktivlegitimiert. Neben den Niederlanden vertrat in Europa das Vereinigte Königreich die Gründungstheorie, was sich möglicherweise aber mit dem Brexit erledigen würde.
Belgien optiert nunmehr ausdrücklich für die Gründungs- oder hier genauer: „Satzungstheorie“ und gewährleistet daher die unbeschränkte Beweglichkeit belgischer Gesellschaften im Sinne der europäischen Niederlassungsfreiheit, unbeachtlich der Frage, wo die tatsächliche Geschäftsführung ausgeübt wird. Es kommt nur auf den Satzungssitz an.
Dies erlaubt sowohl eine Tätigkeit belgischer Gesellschaften im Ausland, wie auch im Ausland sitzende Geschäftsführer eine belgische SRL oder SA führen können. Maßgeblich ist nur noch der statuarische Sitz.
10.
Des Weiteren erlaubt das belgische Gesellschaftsrecht nunmehr eine Aufnahme einer ausländischen Gesellschaft durch einfache Umwandlungserklärung in eine belgische Gesellschaft, und zwar identitätswahrend. Das gleiche gilt umgekehrt für die Umwandlung einer belgischen Gesellschaft in eine ausländische Gesellschaft (soweit der Aufnahmestaat dies zulässt).
11.
Diese weitreichenden Änderungen, insbesondere auch die neue Nomenklatur der Bezeichnungen, machen Übergangsregeln notwendig.
Das Gesetz ist am 01.05.2019 in Kraft getreten. Seit diesem Zeitpunkt können keine Gesellschaften mehr in den Gesellschaftsformen errichtet werden, die entfallen sind.
Bereits existierende, jedoch „entfallene“ Gesellschaften können bis zum 01.01.2020 durch Änderung der Statuten eine „neue“ Gesellschaftsform annehmen, die ihrer ursprünglichen Gesellschaftsform entspricht bzw. am nächsten kommt.
Gesellschaften, die fortbestehen, wie z.B. die Gesellschaft mit beschränkter Haftung, müssen bis spätestens zum 01.01.2020 ihre Statuten und ihre Bezeichnung ändern, soweit notwendig.
Ab dem 01.01.2020 gelten die zwingenden Bestimmungen des Gesellschaftsrechts, die im Widerspruch zu den bisherigen Statuten stehen. Die nicht zwingenden Bestimmungen, die jedoch in den Statuten der bestehenden Gesellschaft nicht geregelt sind, gelten dann kraft Gesetzes bei Altgesellschaften.
Die Übergangsperiode endet 2024. Dann müssen alle Gesellschaften konform zu den neuen Vorschriften sein.
Diese Übergangsregeln sollten ausdrücklich auch als Chance gesehen werden. Das neue belgische Gesellschaftsrecht zeichnet sich durch eine sehr weitgehende Liberalisierung aus. Gesellschaften tun gut daran, dies möglicherweise in ihren Statuten zu reflektieren.
Für eine weitere Beratung diesbezüglich stehen wir Ihnen gerne zur Verfügung.
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AGB-Recht: Die Flucht ins ausländische Recht bei Standardverträgen
Guido Imfeld, Standpunkte /von Guido ImfeldErfolgreiches Vertragsmanagement von Unternehmen setzt häufig Standardisierung voraus. Es bietet sich an, bei sich wiederholenden Geschäftsvorgängen auf Vertragsmuster zurückzugreifen.
Die deutsche Wirtschaft, insbesondere die Exportwirtschaft, steht sich dabei aber teilweise aufgrund des Rechts „made in Germany“ selbst im Wege. Das deutsche Recht hat seine Meriten, ganz zweifellos. Es ist strukturiert und die zum deutschen Recht ergangene Rechtsprechung ist von ausgezeichneter Qualität. Aber das deutsche Recht hat einen großen Hemmschuh: Das AGB-Recht.
Hemmschuh im deutschen Recht: AGB-Recht
Mit Ausnahme insbesondere von Österreich und Deutschland gibt es kaum Länder auf dieser Welt, die im Bereich B2B eine im Vergleich zum deutschen AGB-Recht erstzunehmende Prüfung der Wirksamkeit von Vertragsklauseln im kaufmännischen Verkehr vorsehen. Die meisten nationalen Rechtsordnungen gehen davon aus, dass die Kaufleute mit ihrer Dispositionsfreiheit bei dem Aushandeln von Verträgen umgehen können. Dies ist vor allem der Fall in Ländern des common law.
Erfahrungsgemäß versucht jede Vertragspartie, ihr eigenes nationales Recht durchzusetzen. Dabei erfolgt diese Durchsetzung nicht reflektiert vor dem Hintergrund einer Analyse und des Vergleichs zwischen dem möglicherweise anwendbaren internationalen Recht (UN-Kaufrecht) und/oder den in Frage kommenden jeweiligen nationalen Bestimmungen, sondern als Reflex: Das, was näher und bekannt ist, erscheint besser und sicherer.
Dies ist allerdings nicht immer richtig.
Deutsches Recht ist grundsätzlich anwendbar, wenn der Vertragspartner, der die vertragscharakteristische Leistung erbringt (der Verkäufer, der Unternehmer, der Vertragshändler, der Handelsvertreter etc.) seinen Sitz in Deutschland hat oder die Parteien durch Rechtswahl die Anwendbarkeit des deutschen Rechts bestimmen (Artikel 3 und 4 Rom I-Verordnung).
Die meisten ausländischen Rechtsordnungen respektieren die Vertragsautonomie bis zur Grenze der Sittenwidrigkeit und der zwingenden Eingriffsnormen der Parteien nach Maßgabe des im deutschen Recht in § 307 Abs. 1 BGB enthaltenen Grundsatzes: Allgemeine Geschäftsbedingungen sind (erst) dann unwirksam, wenn sie den Vertragspartner des Verwenders entgegen den Geboten von Treu und Glauben unangemessen benachteiligen, insbesondere, wenn sie mit wesentlichen Grundgedanken der gesetzlichen Regelung, von der abgewichen wird, nicht zu vereinbaren sind oder wesentliche Rechte oder Pflichten, die sich aus der Natur des Vertrages ergeben, so einschränken, dass die Erreichung des Vertragszwecks gefährdet wird.
Das deutsche Recht geht aber insbesondere in den Klauseln der §§ 308 und 309 BGB sehr viel weiter. So ist es im deutschen Recht z.B. so gut wie unmöglich, die Haftung effektiv einzuschränken, was häufig insbesondere im Hinblick auf Folgeschäden und daraus resultierende Risiken kaufmännisch jedoch unabdingbar ist.
Deutsche Unternehmen, die in Verhandlungen das deutsche Recht durchsetzen, versperren sich daher den Weg, ggf. sachgerechte Ergebnisse zu erzielen.
AGB liegen immer dann vor, wenn ein Verwender solcher Allgemeiner Geschäftsbedingungen diese in mehr als drei Fällen zu verwenden beabsichtigt, wobei die Klauselkontrolle bereits bei der ersten Verwendung greift.
Da die Verwendungsabsicht jedoch im subjektiven Bereich liegt und der Vertragspartner keinen Überblick darüber hat, bei wie vielen anderen Vertragsverhältnissen ggf. die AGB noch Verwendung finden, stellt das Gesetz eine Vermutung auf, wonach AGB dann vorliegen (können), wenn sich dies aus äußeren Gegebenheiten, z.B. der Vorformulierung oder der Aufmachung der Vertragsdokumente ergibt. Diese Vermutung muss dann der Verwender widerlegen. Hierbei kann er sich nicht auf das Bestreiten seiner Absicht, die AGB mehrfach zu verwenden, zurückziehen; er kann auch nicht wider besseren Wissens vortragen, er habe die AGB nur einmal verwendet, weil er sich für den Fall, dass dies nicht zutrifft, dem Vorwurf des Prozessbetruges aussetzen könnte.
Von AGB zu Individualvereinbarungen?
Ein Ausweg hieraus wird häufig in der Vermeidung der Anwendung des AGB-Rechts durch Individualvereinbarungen gesehen.
Es ist jedoch ein steiniger Weg des AGB-Verwenders zur Individualvereinbarung (siehe hierzu Kappus, NJW 1-2/2016, Seite 33). Denn einfache Umgehungstatbestände, wie z.B. deklaratorische Hinweis in AGB, bei den Vertragsbedingungen handele es sich um Individualvereinbarungen, was der Vertragspartner mit der Unterschrift bestätige, scheitern am AGB-Recht selbst. Eine gesonderte Bestätigung, dass es sich um eine Individualvereinbarung handele oder den Hinweis, man habe die Vertragsdokumente dem Verhandlungspartner mit der Bitte um Prüfung vorgelegt, reichen nach deutscher Rechtsprechung ebenfalls nicht aus, um aus AGB Individualvereinbarungen zu machen.
Es reicht auch nicht aus, zu dokumentieren, man habe den Vertrag gemeinsam durchgesehen, sei die einzelnen Bestimmungen durchgegangen und der Vertragspartner habe dabei Gelegenheit gehabt, die Vertragsbestimmungen in Frage zu stellen oder zu diskutieren.
Dies alles ist noch kein Aushandeln im Sinne eines Zur-Disposition-Stellens, wie es die Rechtsprechung fordert.
Individualvereinbarungen liegen erst dann vor, wenn die Parteien auf Augenhöhe verhandelt haben, der Verwender also mit der ernsthaften Absicht, die Klauseln zur Prüfung und Genehmigung durch seinen Vertragspartner vorzulegen, diese Regelungen tatsächlich zur Disposition gestellt und im Einzelnen verhandelt hat. Dieser Nachweis ist sehr schwer zu führen, umso schwerer, als ein solches tatsächliches, auf Augenhöhe-Verhandeln und zur Dispositionstellen ja im Zweifel gar nicht gewünscht wird und dem Zweck von Allgemeinen Geschäftsbedingungen, Geschäftsabläufe zu standardisieren, letztlich zuwiderläuft.
Aber erst, wenn eine solche Verhandlungssituation im Einzelnen beweissicher dokumentiert ist, kann man von Individualvereinbarungen ausgehen und die Anwendung des AGB-Rechts vermeiden.
Deshalb sollte tatsächlich in Betracht gezogen werden, gerade in Fällen mit hohem Haftungsrisiko aus Folgeschäden, von der in vielen in ausländischen Rechtsordnungen zulässigen Beschränkung der Haftung zu profitieren.
Unter Sorgfaltsgesichtspunkten setzt dies selbstverständlich einen Vergleich zwischen den Regelungen der heimischen Rechtsordnung und denjenigen der ins Auge gefassten ausländischen Rechtsordnung voraus.
Ausweichen auf ausländisches Recht
Unbesehen darf dabei nicht auf eine ausländische Rechtsordnung ausgewichen werden. Ein Beispiel hierzu: Vereinbart man z.B. in einem Kaufvertrag die Anwendbarkeit des unvereinheitlichten französischen Rechts des Code Civil, entgeht man zwar der AGB-Problematik. Aber im Hinblick auf Artikel 1645 Code Civil und die im französischen Recht unwiderlegbare Vermutung, dass ein professioneller Verkäufer Kenntnis von Mängeln zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses und der Lieferung hat, kann man auch individuell Schadensersatzansprüche, insbesondere für Folgeschäden, nicht wirksam ausschließen.
Im belgischen Recht verhält es sich ähnlich, wobei in beiden Fällen z.B. die Einbeziehung des UN-Kaufrechts Abhilfe bieten kann.
Das Ausweichen auf das in deutscher Sprache verfügbare und sehr liberale Schweizer Recht, was häufig als Ausweg empfohlen wird, hat hingegen auch Gefahrenpotential. Denn hier setzt Artikel 3 Rom I-Verordnung der Rechtswahl durchaus Grenzen: Die Rechtswahl setzt Bezugspunkte des Vertrages zu dem gewählten Recht voraus, was z.B. bei einem Vertrag nach Schweizer Recht zwischen einem deutschen und einem französischen Unternehmen nicht unbedingt der Fall ist. Daher können zwingende Bestimmungen des ohne Rechtswahl anwendbaren Rechts, unter Umständen dann das deutsche AGB-Recht, über Artikel 3 Rom I-Verordnung wieder Anwendung finden.
Guido Imfeld
Rechtsanwalt / Avocat / Advocaat
Fachanwalt für internationales Wirtschaftsrecht
Fachanwalt für Handels- und Gesellschaftsrecht
Fachanwalt für gewerblichen Rechtsschutz
Wirtschaftsmediator
Verhältnis zwischen UN-Kaufrecht und französischem unvereinheitlichten Recht klargestellt
Guido Imfeld, Standpunkte /von Guido ImfeldEndlich: Klarstellung des französischen obersten Gerichtshofs zum Verhältnis zwischen UN-Kaufrecht und französischem unvereinheitlichten Recht
Das UN-Kaufrecht (CISG) ist ein unter der Leitung der Vereinten Nationen in 1980 entstandenes internationales Kaufrecht, das nunmehr von 83 Staaten weltweit ratifiziert und in nationales Recht umgesetzt wurde.
In der EU haben das UN-Kaufrecht alle EU-Mitgliedstaaten mit der Ausnahme von Malta, Portugal und England ratifiziert. Auch Staaten wie die USA, China oder Brasilien sind dem UN-Kaufrecht beigetreten.
Anwendbar ist das UN-Kaufrecht auf alle grenzüberschreitenden, d.h. internationalen Warenverkäufe zur gewerblichen Zwecken. Dies bedeutet, dass vorbehaltlich eines möglichen Ausschlusses der Anwendbarkeit des UN-Kaufrechts sämtliche Exporte der Bundesrepublik Deutschland diesem Recht unterliegen. Schätzungen gehen davon aus, dass ca. 85 % aller Importe ebenfalls dem UN-Kaufrecht unterfallen.
Das UN-Kaufrecht regelt die meisten Aspekte des Kaufvertrages einschließlich der Frage des Zustandekommens von Verträgen, ihrer Durchführung, der Mängelgewährleistung und Schadenersatzansprüchen infolge von Vertragsverletzungen.
Anwendbar ist das UN-Kaufrecht dann, wenn nach Maßgabe der Regeln des internationalen Privatrechts – in der EU einheitlich geregelt durch die Rom I-Verordnung – das Recht eines Staates Anwendung findet, in dem das UN-Kaufrecht gilt.
Gemäß Artikel 4 Rom I-VO gilt die Vermutung, dass ein Kaufvertrag dem Recht des Landes unterfällt, in dem der Verkäufer seinen Sitz hat. Alternativ dazu ist gemäß Artikel 3 Rom I-VO eine Rechtswahl zulässig.
Möchte man die Anwendbarkeit des UN-Kaufrechts ausschließen, muss dies ausdrücklich erfolgen (so Artikel 6 CISG). Wählt man z.B. pauschal das deutsche Recht, ist damit das UN-Kaufrecht, da Bestandteil des deutschen Rechts, anwendbar. Gleiches gilt entsprechend bei der Wahl zum belgischen und französischen Recht.
Soweit das UN-Kaufrecht anwendbar ist, ist der Rückgriff auf die Regeln des nationalen, unvereinheitlichten Rechts ausgeschlossen. Nicht geregelt wird im UN-Kaufrecht die Frage der Aufrechnung, der Stellvertretung, des Eigentumsübergangs und der Verjährung. Diese Fragen werden durch das nach Maßgabe des Internationalen Privatrechts anwendbare nationale Recht geregelt.
Soweit die Frage der Gewährleistungsansprüche und daraus möglicherweise resultierender Schadensersatzansprüche betroffen war, regelt das UN-Kaufrecht nach seinem Wortlaut lediglich die Frage, welche Rechtsbehelfe der Käufer bei mangelhafter Lieferung hat. Ob der Verkäufer bei Abschluss des Kaufvertrages Kenntnis von der Vertragswidrigkeit der Ware hatte, spielt im UN-Kaufrecht zunächst keine Rolle. Denn anders als im deutschen, belgischen oder französischen Recht haftet der Verkäufer bei Mängeln verschuldensunabhängig auf Schadensersatz (Artikel 74 CISG). Eine Ausnahme besteht nur für die Verletzung der Untersuchungs- und Rügepflicht, auf die der dolose Verkäufer sich gemäß Artikel 40 CISG nicht berufen kann (s.u.).
Im französischen Recht des Code Civil gibt es hingegen richterrechtlich entwickelt die unwiderlegbare Vermutung, dass ein professioneller Verkäufer, der im Verhältnis zum Käufer als Spezialist gilt, bei Lieferung einer mangelhaften Sache Kenntnis von dem Mangel hat und daher dolos handelt. Aufgrund der unwiderlegbaren Vermutung kommt es auf die tatsächliche Kenntnis nicht an. Im belgischen Recht gibt es dieselbe Vermutung, aber sie ist widerlegbar.
Folge im französischen oder belgischen unvereinheitlichem Recht ist, dass der Käufer nicht nur, wie dies in Artikel 1644 Code Civil vorgesehen ist, das Recht hat, die Kaufsache gegen Erstattung des Kaufpreises zurückzugeben oder Minderung zu verlangen. Artikel 1645 Code Civil bestimmt, dass für den Fall, dass der Verkäufer bei Abschluss des Kaufvertrages Kenntnis von dem Mangel hatte, darüber hinaus unbegrenzt Schadensersatz gefordert werden kann.
Da der Verkäufer aufgrund der gesetzlichen Vermutung als dolos, d.h. vorsätzlich handelnd angesehen wird, folgt daraus ferner, dass grundsätzlich nach französischem materiellem Recht Haftungsbeschränkungen oder –ausschlüsse bezüglich des Schadenersatzes in Folge der Lieferung einer mangelhaften Sache unwirksam sein können, wenn der Verkäufer als Spezialist im Verhältnis zum Käufer angesehen wird. Im UN-Kaufrecht hingegen ist, vorbehaltlich der möglichen Anwendung des jeweils nationalen AGB-Rechts, eine Haftungsbeschränkung ohne Weiteres zulässig.
Dies hätte zur Folge, dass bei subsidiärer Anwendbarkeit des französischen Rechts der Käufer die Nichtigkeit der Haftungsbegrenzung einwenden könnte und er den Beweis der Kenntnis des Vertragsmangels auf Seite des Verkäufers nicht führen müsste. Dies hatte bisher eine erhebliche Rechtsunsicherheit zur Folge, weil sich die Regelungsbereiche des Gewährleistungsrechts des UN-Kaufrechts und des französischen Rechts insoweit überschneiden. Ein Teil der Doktrin und Rechtsprechung ging dabei davon aus, dass das unvereinheitlichte Recht des Code Civil parallel anwendbar blieb, da die vorsätzliche Lieferung einer mangelhaften Sache im UN-Kaufrecht nicht geregelt sei.
Dies hat auch Folgen für die Anwendbarkeit der Artikel 38 und 39 CISG. Das UN-Kaufrecht kennt, anders als das französische und belgische Recht, jedoch wie das deutsche Recht, eine Untersuchungs- und Rügepflicht. Ein gewerblicher Käufer ist danach verpflichtet, die Kaufsache bei Lieferung unverzüglich auf Vertragskonformität zu prüfen und etwaige Mängel wiederum unverzüglich zu rügen. Erfolgt dies nicht, ist er mit Gewährleistungsansprüchen ausgeschlossen, es sei denn, so Artikel 40 CISG, der Verkäufer hatte positive Kenntnis von dem Mangel bei Abschluss des Kaufvertrages bzw. Lieferung. Dies muss der Käufer nach UN-Kaufrecht beweisen. Nach französischem und belgischem Recht gilt jedoch zu Lasten des professionellen Verkäufers die gesetzliche Vermutung.
Der französische oberste Gerichtshof – Cour de Cassation – hatte sich mit einem Fall zu befassen, in dem der Käufer die Kaufsache nicht untersuchte und deshalb einen Mangel, den er bei ordnungsgemäßer Untersuchung hätte entdecken können und müssen, nicht rügte.
Der Käufer berief sich jedoch aufgrund der subsidiären Anwendbarkeit des französischen Rechts auf Artikel 40 CISG und wandte ein, dass der Verkäufer ihm die Verletzung der Untersuchungs- und Rügepflicht gemäß Artikel 38 und 39 CISG nicht entgegenhalten könne. Denn aufgrund der bestehenden gesetzlichen Vermutung der Kenntnis des Mangels habe der Verkäufer dolos gehandelt. Beweis hierfür wurde allein durch die objektive Existenz des Mangels geführt.
Der französische oberste Gerichtshof entschied jedoch, dass im System des UN-Kaufrechts die Ansprüche des Käufers aufgrund eines Mangels der Kaufsache abschließend geregelt seien und insoweit eine Sperre für die Anwendbarkeit des nationalen unvereinheitlichten Rechts bestehe. Dies schließe auch die gesetzliche Vermutung der Kenntnis eines Mangels zu Lasten des spezialisierten Verkäufers auf der Grundlage des Code Civil ein.
In dieser Entscheidung vom 14.11.2014 (Cour de Cassation, Urteil vom 14.11.2014 – 13-10776 (IHR 2015, 212)) befand die Cour de Cassation daher, dass sich Mängelgewährleistungsansprüche ausschließlich nach dem UN-Kaufrecht richten, einschließlich der Schadensersatzansprüche. Infolge dessen obsiegte der Verkäufer, da der Käufer nicht beweisen konnte, dass der Verkäufer positive Kenntnis von dem Mangel bei Abschluss des Kaufvertrages hatte.
In weiterer Auslegung ist man davon ausgehen, dass mit dieser Entscheidung die Beschränkung oder der Ausschluss von Schadenersatzansprüchen in Verträgen, die dem UN-Kaufrecht unterliegen, bei denen jedoch subsidiär das französische Recht anwendbar ist, nunmehr zulässig ist. Diese Klarstellung wurde in der Rechtspraxis dringend erwartet, da die mögliche Anwendbarkeit der gesetzlichen französischen Vermutung dazu führte, dass im Falle der Anwendbarkeit des französischen Rechts gemäß Artikel 3 oder 4 Rom I-VO effektive Haftungsbeschränkungsvereinbarungen nicht rechtssicher zu vereinbaren waren, auch wenn es sich um Individualverträge handelt.
Da sich die belgische Rechtsprechung aufgrund des Umstandes, dass auch dort der Code Civil anwendbar ist, häufig an Entscheidungen der Cour de Cassation orientiert, haben wir die Hoffnung, dass sich die Rechtsprechung der Cour de Cassation auch in Belgien durchsetzt.
Dies sollte auch für einen weiteren maßgeblichen Bereich des Kaufrechts gelten, nämlich das Zustandekommen von Kaufverträgen. Gemäß Artikel 25 Code Commerce gilt im belgischen Recht, dass ein Kaufmann gehalten ist, Mitteilungen seines Vertragspartners, mit deren Inhalt er nicht einverstanden ist, umgehend zu widersprechen.
Dies geht sogar so weit, dass aufgrund von Artikel 25 Code de Commerce im belgischen Recht die Möglichkeit besteht, Allgemeine Geschäftsbedingungen allein durch Hinweis auf eine dem Vertragsschluss nachgelagerte Rechnung, gegen die der Empfänger nicht protestiert, nachträglich in den Vertrag einzubeziehen. Dies steht in krassem Widerspruch zu der Vertragsmechanik des UN-Kaufrechts und dessen Artikel 18 CISG, wonach gilt, dass Schweigen im Rechtsverkehr grundsätzlich nichts bedeutet und das AGB vor oder spätestens bei Vertragsschluss in den Vertrag einbezogen werden müsse, und zwar durch Übersendung und nicht nur Bezugnahme. Im belgischen Recht kann jedoch das Schweigen aufgrund von Artikel 25 Code de Commerce konstitutive Bedeutung haben.
Da Artikel 18 CISG insoweit mit Artikel 25 Code de Commerce kollidiert, kann aus der vorgenannten Entscheidung der Cour de Cassation in logischer Auslegung und Weiterung geschlossen werden, dass ein Rückgriff auf Artikel 25 Code de Commerce in den Fällen, in denen das UN-Kaufrecht Anwendung findet, ausgeschlossen ist. Auch hiermit wäre im internationalen Handel erhebliche Rechtssicherheit gewonnen.
Die Entscheidung ist daher nur zu begrüßen und es wird abzuwarten bleiben, wie sie in Belgien rezipiert und umgesetzt wird.
Guido Imfeld
Rechtsanwalt / Avocat / Advocaat
Fachanwalt für internationales Wirtschaftsrecht
Fachanwalt für Handels- und Gesellschaftsrecht
Fachanwalt für gewerblichen Rechtsschutz
Wirtschaftsmediator
Außergerichtliche Streitbeilegung in Deutschland und Belgien
Guido Imfeld, Standpunkte /von Guido ImfeldRechtsanwalt Guido Imfeld hielt am 12.11.2015 einen Vortrag über außergerichtliche Streitlösung bei dem Deutschen Sachverständigentag in Leipzig.
Frage 1: Welche Verfahren und Methoden zur außergerichtlichen Lösung von Konflikten und Streitigkeiten gibt es?
1.1. Soweit Charakteristikum der außergerichtlichen Lösung von Konfliktfällen ist, dass diese außerhalb der staatlichen Gerichtsbarkeit stattfindet, wären als solche Methoden
- die institutionelle Schiedsgerichtsbarkeit,
- die ad-hoc-Schiedsgerichtsbarkeit,
- die Streitschlichtung,
- die Mediation und
- die Cooperative Praxis (collaborative law)
zu nennen.
1.2. Die Schiedsgerichtsbarkeit unterscheidet sich von der staatlichen Gerichtsbarkeit dadurch, dass ihr ein Moment der Freiwilligkeit innewohnt. Die Parteien müssen sich vertraglich auf die Durchführung eines Schiedsverfahrens anstelle der staatlichen Gerichtsbarkeit im Konfliktfall einigen.
Gleichwohl erfolgt die Konfliktlösung durch das Schiedsgericht nicht anders als bei einem staatlichen Gericht, nämlich in der Weise, dass die Parteien ihre jeweilige Position in kontradiktorischer Weise darlegen und ein aus einem oder mehreren Entscheidern (Schiedsrichter) bestehendes Kollegium den Streitfall löst. Der (ordnungsgemäß zu Stande gekommene) Schiedsspruch kann dann unter Zuhilfenahme staatlicher Mittel vollstreckt werden. Im Ergebnis entscheidet daher ein Dritter gemäß der Verfahrensordnung des Schiedsgerichts, das die Funktion einer Zivilprozessordnung hat, über den Streitfall der Parteien.
1.3. Eine Schlichtung hingegen setzt das Einvernehmen der Parteien mit der vom Schlichter vorgeschlagenen Lösung voraus. Der Schlichter kann zu Gunsten der einen oder anderen Partei nach Würdigung des Sachverhaltes und der rechtlichen Gegebenheiten Stellung beziehen und auf die Parteien im Sinne einer einvernehmlichen Lösung einwirken. Auch hier liegt in der Rolle des Streitschlichters ein Element der Autorität.
1.4. Bei der Mediation hingegen obliegt es den Parteien selbst, eine interessengerechte Lösung des Konflikts zu erarbeiten. Der Diskurs ist nicht antagonistisch und kontradiktorisch anhand von Positionen strukturiert, sondern es erfolgt eine Interessenklärung. Innerhalb der Mediation ist durch das sogenannte Phasenmodell eine Struktur des Diskurses vorgegeben, deren Ziel die Konfliktlösung durch die Parteien ist. Der Mediator als neutrale oder allparteiliche Person hat die Aufgabe, den Konflikt zu begleiten, auf die Einhaltung der Verfahrensregeln zu achten und die Parteien auf diese Weise zu befähigen, eigenständig eine nicht zwingend rechtliche Lösung ihres Konfliktes im beiderseitigen Interesse zu vereinbaren.
1.5. Bei der Cooperativen Praxis handelt es sich um ein Verfahren, das mit den Mitteln der Mediation, insbesondere dem Phasenmodell arbeitet, jedoch die Besonderheit aufweist, dass jede der Parteien von einem, in der Regel anwaltlichen, Vertreter begleitet wird. Anders als bei der Mediation gibt es keinen allparteilichen Mediator, sondern zwei Berater, die den Medianten zur Seite stehen, jedoch im Interesse einer eigenständigen, von den Parteien zu erarbeitenden Lösung den Diskurs strukturieren. Dabei arbeiten die Anwälte kooperativ zusammen und richten sich an den Interessen und Motivationen, nicht aber an Positionen der Parteien aus. Im Gegensatz zur Mediation beeinflussen die Beistände der Parteien jedoch das Verfahren, indem sie eigenständig rechtlichen Input geben und an einer Lösung mitwirken. Aufgrund des Teamworking der beiden Beistände fließen auch Elemente des Coaching und der Supervision in den Prozess ein.
Wesentliches Merkmal der Cooperativen Praxis ist die sogenannte Disqualifikationsklausel. Dies bedeutet, dass sich Anwälte und Parteien in einem privatrechtlichen Verfahrensvertrag zuvor darauf verständigen, dass die Anwälte in dem Fall des Scheiterns des Prozesses der Cooperativen Praxis die Parteien später nicht in einem kontradiktorischen Prozess, sei dies die Schiedsgerichtsbarkeit oder staatliche Gerichtsbarkeit, vertreten dürfen.
2. Bei welcher Art von Konflikten (z.B. Familienangelegenheiten, Bau-, Nachbar-, Versicherungsstreitigen, Arzthaftungssachen etc.) werden sie eingesetzt?
Ich würde eher nicht anhand der Verfahrensgegenstände beantworten wollen, welche Möglichkeit der Streitschlichtung oder –entscheidung im konkreten Fall in Betracht kommt.
Es kommt immer auf die Einzelheiten des Konfliktfalles an.
Ein wesentlicher Vorteil der Schiedsgerichtsbarkeit z.B. ist die Vertraulichkeit. Wenn es um einen Verfahrensgegenstand geht, der nicht an die Öffentlichkeit gelangen soll, wie dies z.B. häufig der Fall ist bei Patent- und Know-How-Streitigkeiten oder im Gesellschaftsrecht, bieten sich nicht öffentliche Verfahrensarten an. Die vorgenannten Punkte sprechen daher auch z.B. für die Mediation und die Cooperative Praxis.
Für letztere Methoden ist allerdings eher charakteristisch und ausschlaggebend, dass sie sich für alle Konflikte eignen, bei denen die Interessen und Motivationen der Parteien eine vorrangige Rolle vor der Rechtsanwendung spielen.
Inkasso aus Warenlieferung z.B. eignet sich eher weniger für die alternative Streitschlichtung. Gleiches gilt z.B. für Versicherungssachen, Verkehrsunfälle, in denen ausschließlich der zu ermittelnde oder technische Sachverhalt die rechtliche Lösung vorgibt. Soweit der rechtliche Kontext der Streitsache eine eher ungeordnete Rolle bei der Genese und Lösung des Konfliktes spielt, ist die alternative Streitschlichtung von Interesse. Dies betrifft insbesondere Verfahren, bei denen die Konfliktentstehung und ihre Analyse von wesentlicher Bedeutung für die Streitentstehung sind.
Für die Schiedsgerichtsbarkeit spricht häufig, dass Schiedsgerichte in der Regel schneller entscheiden als dies bei der staatlichen Gerichtsbarkeit möglich wäre (s.u.).
Nach den Erfahrungen des Unterzeichners muss dies jedoch für Deutschland nuanciert werden, da teilweise Verfahren in I. Instanz in Deutschland vor den staatlichen Gerichten schneller durchgeführt werden können, als dies z.B. zur Zeit bei der ICC möglich wäre.
3. Wie viele Fälle sind pro Jahr Gegenstand von Verfahren und Methoden zur außergerichtlichen Lösung von Konflikten und Streitigkeiten? Gibt es Arten von Konflikten, bei denen diese Verfahren besonders häufig angewendet werden?
Aufgrund des Umstandes, dass sowohl Schiedsverfahren wie auch alternative Methoden der Streitschlichtung auf privater Initiative beruhen und durchgeführt werden, gibt es keine verlässlichen Zahlen zu dem Verhältnis zwischen gerichtlicher und außergerichtlicher Konfliktlösung bzw. zum Verhältnis der klassischen Konfliktlösung durch staatliche und Schiedsgerichte auf der einen und der alternativen Streitschlichtung auf der anderen Seite.
Nachvollziehbar ist, dass gerade in Familienstreitigkeiten die außergerichtliche Streitschlichtung eher im Vordergrund steht. Im Wirtschaftsrecht ist die Mediation wie auch die Cooperative Praxis zur Zeit ganz erheblich nachrangig zur staatlichen Gerichtsbarkeit. Im Bereich der Schiedsgerichtsbarkeit kann man davon ausgehen, dass dieses Verfahrensart überproportional häufig in internationalen Rechtsstreitigkeiten angewandt wird.
Im Gegensatz dazu gibt es Statistiken, die belegen, dass eine Mehrheit der jeweils befragten Verkehrskreise der alternativen Streitschlichtung positiv gegenübersteht. Im konkreten Streitfall wird jedoch paradoxerweise der klassischen Konfliktlösung häufig der Vorzug gegeben. Dies hängt vielleicht zum einen damit zusammen, dass in dem Konfliktfall beide Parteien übereinstimmend der Auffassung sein müssen, dass die alternative Streitschlichtung in Frage kommt. Bei der Cooperativen Praxis kommt hinzu, dass beide Anwälte in der alternativen Streitschlichtung ausgebildet sein sollten, was für den Fall, dass eine oder beide Parteien bereits klassisch anwaltlich vertreten sind, ein faktisches Verfahrenshindernis darstellt. Im Bereich des Wirtschaftsrechts ist das Verbot der Vorbefassung ein weiteres Hindernis, was Anwälte davon abhält, ihren (Dauer-)Mandanten zur alternativen Streitschlichtung zu raten, weil dann der betreffende Anwalt bzw. dessen Sozietät von dem Verfahren ausgeschlossen ist (mit Ausnahme von Mediationsverfahren, an denen die Anwälte und Mandanten teilnehmen, die jedoch eher selten sind). Bei der Cooperativen Praxis führt die Disqualifikationsklausel häufig zur Ablehnung des Verfahrensvorschlags.
4. Welche Erfahrungen bestehen mit der Anwendung von Verfahren und Methoden zur außergerichtlichen Konfliktlösung?
- werden die Gerichte von Streitigkeiten entlastet;
- welche Akzeptanz haben diese Verfahren zur außergerichtlichen Streitbeilegung bei den Beteiligten;
- kann der Konflikt schneller gelöst werden, als bei einem vor Gericht ausgetragenen Rechtsstreit
4.1. Die Entlastung der Justiz spielt bei der gesetzlichen Präferenz, die die alternative Streitschlichtung zur Zeit genießt, eine herausragende Rolle.
Derartige Bestrebungen sind daher insbesondere in Frankreich und Belgien zu verzeichnen. Diese Bestrebungen sind auch eine Antwort auf ein partielles Staatsversagen bei der Justizgewährung (Stichworte: Prozesskostenhilfe/Pro Deo/Verfahrensdauer).
4.2. Das deutsche Zivilprozessrecht ist spätestens seit der Reform in 2002 von seiner gesamten Struktur her auf die zwar gerichtliche, jedoch einvernehmliche Streitlösung gerichtet. So ist gemäß § 278 ZPO der mündlichen Verhandlung die sogenannte Güteverhandlung vorgelagert, bei der der Richter/die Richterin auf eine einvernehmliche Lösung zwischen den Parteien hinwirken soll. Im Bereich z.B. der Handelsgerichtsbarkeit im Gerichtsbezirk des Unterzeichners werden schätzungsweise 80 % der Fälle bei den Kammer für Handelssachen im Wege des Vergleiches gelöst. Der Vorteil einer außergerichtlichen Lösung liegt darin, dass in Deutschland 2/3 der Gerichtskosten im Falle eines Vergleiches zurückerstattet werden und die Honorare des Anwaltes sich um ca. 50 % durch die sogenannte Einigungsgebühr erhöhen (als Entschädigung für eine eventuelle II. Instanz, die unter Gebührengesichtspunkten verloren geht).
Der Richter – und damit die Justiz – selbst wird durch diese Fokussierung der Justiz auf die gerichtliche Einigung erheblich von Arbeit entlastet. Die den Richtern von der Verwaltung vorgegebenen Erledigungszahlen sind kaum zu erreichen, wenn in jedem Konfliktfall ein Urteil geschrieben werden müsste. Daher ist das System als solches auf schnelle und gütliche Streitbeilegung, allerdings im gerichtlichen Prozess gerichtet. Insoweit ist davon auszugehen, dass die Güteverhandlung im deutschen Zivilprozessrecht eine wesentliche bzw. die wesentliche Maßnahme zur Verringerung der Belastung der Gerichte darstellt. Dies ist, soweit der Zugang zur Justiz betroffen ist, nicht unproblematisch. Denn in der Güteverhandlung hat der Richter/die Justiz ein eigenes ökonomisches Interesse, das jedoch weder offengelegt noch kommuniziert wird.
4.3. Aufgrund der Rolle des Richters in Belgien, gemäß der Tradition des Code Civil, gibt es dort in aller Regel keine Einwirkung des Gerichts auf die Parteien zur Schlichtung, mit Ausnahme der gerichtlichen Mediation. Selbst in den Fällen, in denen z.B. im Code Judiciaire, vgl. Artikel 1345, die conciliation (Schlichtung) vorgeschrieben wird, nehmen die Richter in der Praxis kaum aktiv Einfluss auf den Streitverlauf und beschränken sich häufig darauf, eine zwischen den Parteien verhandelte Einigung bzw. in aller Regel, weil es ansonsten für kein Verfahren vor Gericht gäbe, das Scheitern der Einigungsbemühungen zu verzeichnen. Jedoch kann der Richter in Belgien den Parteien eine médiation judiciaire vorschlagen und das streitige Verfahren, unter Beibehaltung der Verjährungsunterbrechung, aussetzen. Diese Möglichkeit wird verstärkt genutzt, um die Arbeitsbelastung der Gerichte zu verringern.
4.4. Die Akzeptanz der Verfahren zur außergerichtlichen Streitbeilegung ist unter theoretischen Gesichtspunkten sehr hoch. In der Praxis zeigt sich jedoch, dass außer im Bereich Täter-Opfer-Ausgleich oder im Familienrecht wohl eher nur eine einstellige Prozentzahl der Mandanten von der alternativen Streitbeilegung Gebrauch machen dürften.
Dabei ist auch zu verzeichnen, dass der Gesetzgeber, zumindest in Deutschland, das Reservoir der alternativen Streitschlichtung nicht ausreichend nutzt, indem das ursprünglich als Gesetz zur alternativen Streitbeilegung bezeichnete Mediationsgesetz nur noch die Mediation behandelt und z.B. die nach dem Selbstverständnis der Anwaltschaft und ihren wirtschaftlichen Bedürfnissen eigentlich nach diesseitiger Auffassung eher geeignete oder in Betracht zu ziehende Cooperative Praxis in Deutschland, anders als dies in den Vereinigten Staaten, Kanada oder auch Belgien, der Fall ist, nicht vorsieht und in den gesetzlichen Rahmen einbezieht.
4.5. Bei der außergerichtlichen Konfliktlösung ist zwischen Schiedsgerichtsbarkeit und alternativer Streitschlichtung zu unterscheiden, was die Schnelligkeit des Verfahrens betrifft.
Während man noch vor zehn Jahren davon ausgehen konnte, dass z.B. ein Verfahren vor der ICC in Paris schneller ist als vor einem staatlichen Gericht, würde ich dies z.B. für Deutschland nuancieren, für Belgien hingegen bejahen.
Im deutschen Zivilprozessrecht dürfte für den Fall, dass eine Güteverhandlung positiv verläuft, unter dem Gesichtspunkt der Effizienz und der Schnelligkeit dem staatlichen Gerichtsverfahren der Vorzug vor der Schiedsgerichtsbarkeit gegeben werden.
Dies gilt grundsätzlich auch bei Verfahren, die durch Urteile entschieden werden. Differenzieren muss man dies aufgrund der in der Schiedsgerichtsbarkeit nicht vorgesehenen II. Instanz. Soweit jedoch keine umfangreichen Sachverständigengutachten notwendig sind, kann man davon ausgehen, dass in vielen Gerichtsbezirken in Deutschland zwei Instanzen in anderthalb bis zwei Jahren erfolgreich beendet werden können.
Dies gilt im Einzelfall nicht bei komplexen technischen oder anderen Fragen, bei denen die Prozessdauer von der Komplexität und vom Umfang sachverständiger Begutachtungen abhängig ist. In diesem Fall kann jedoch ggf. durch Wahl eines Beweissicherungsverfahrens Zeit gewonnen werden. Hier kann die Vereinbarung einer ad-hoc-Schiedsgerichtsbarkeit oder einer Mediation durch Einbindung von Sachverständigen Konflikte erheblich schneller lösen als die staatliche Gerichtsbarkeit.
Für Belgien ist zu vermelden, dass die Einschaltung von Schiedsgerichten, Schlichtung und auch der außergerichtlichen Streitbeilegung jedenfalls nach diesseitiger Erfahrung zu einer erheblichen Verfahrensbeschleunigung führt.
Für Belgien ist positiv zu vermerken, dass durch die gerichtlich veranlasste Mediation viele Sachverständige in der Mediation ausgebildet werden und in Verfahren, in denen es vor allem auf den Beitrag des Sachverständigen ankommt, eine erheblich schnellere Lösung erreicht werden kann als dies der Fall bei einem konventionellen gerichtlichen Verfahren wäre.
Im Bereich des internationalen Rechts, und zwar in den Fällen mit Bezug zu zwei oder mehreren Rechtsordnungen, kann der Einsatz der Cooperativen Praxis zur Verfahrensbeschleunigung beitragen. In den Fällen, in denen Anwälte, die in zwei oder mehreren Rechtsordnungen ausgebildet sind, zwei oder mehrere Sprachen beherrschen können, dem Mandanten zur Seite stehen, ist dieses Verfahren sicherlich geeigneter zur Durchführung von internationalen Rechtstreitigkeiten als staatliche Gerichte, bei denen die Richter in aller Regel nur in einer Rechtsordnung ausgebildet sind und in denen jedwedes ausländisches Dokument übersetzt werden muss. Der Vorteil bei der Cooperativen Praxis liegt auch darin, dass die Anwälte konstruktiv zusammenarbeiten, so dass die in der gerichtlichen Auseinandersetzung häufig streitigen Punkte der anwendbaren Rechtsordnung und ihres Inhalts einvernehmlich erarbeitet werden können, dies im Gegensatz zu der in aller Regel langwierigen Einholung von kostspieligen Sachverständigengutachten zu Rechtsfragen der ausländischen Rechtsordnung.
5. Gibt es gesetzliche Regelungen für die Verfahren und Methoden zur außergerichtlichen Lösung von Konflikten und Streitigkeiten?
- auf nationaler Basis;
- aufgrund von Richtlinien der Europäischen Union
Auch hier ist wieder zu unterscheiden zwischen Schiedsgerichtsbarkeit und der alternativen Streitschlichtung.
Schiedsgerichte und die Anerkennung von Schiedssprüchen sind einerseits in den nationalen Zivilprozessordnungen, so z.B. 10. Buch, §§ 1025 ff. der ZPO wie auch auf internationaler Ebene in der Convention on the Recognition and Enforcement of Foreign Arbitral Awards vom 10.06.1958 (New-Yorker Übereinkommen über die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Schiedssprüche) mit 156 Vertragsstaaten zu nennen. In Belgien ist die Schiedsgerichtsbarkeit in den Artikeln 1676 bis 1723 des Code Judiciaire geregelt.
Die alternative Streitschlichtung ist in Deutschland in dem Mediationsgesetz vom 21.07.2012 geregelt, in Belgien durch das Gesetz vom 19.02.2001 im Bereich der médiation familiale sowie die Loi modifiant le Code Judiciaire en ce qui concerne la médiation vom 21.02.2005.
In Belgien ist des Weiteren die Comission fédérale de médiation, die den Berufsstand der Mediatoren reguliert, eingerichtet, bei der auch die zertifizierten Mediatoren (médiateur agrées) gelistet werden (FPF Justice, Comission fédérale de médiation).
Auf europäischer Ebene ist die Richtlinie 2008/52/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21.05.2008 über bestimmte Aspekte der Mediation in Zivil- und Handelssachen, nach der die Schieds- und Gerichtsverfahren in EU-Mitgliedsstaaten angepasst werden sollen, die im Anschluss an einer Mediation stattfinden, zu nennen. Diese regelt auch Beweisverwertungsverbote in späteren Gerichtsverfahren wie auch in Schiedsverfahren.
Ferner ist die europäische Richtlinie 2013/11/EU über alternative Streitbeilegung in Verbraucherangelegenheiten und der Verordnung (EU) Nr. 524/2013 über Online-Streitbeilegungen in Verbraucherangelegenheiten zu nennen, die die Einrichtung von Schlichtungsstellen und von Verfahren der alternativen Streitschlichtung in Verbraucherangelegenheiten vorsehen.
6. Auf welcher Rechtsgrundlage finden diese Verfahren Anwendung?
- vertragliche Vereinbarungen zwischen den Konfliktparteien;
- eine sonstige freiwillige Vereinbarung zwischen den Konfliktparteien;
- eine gesetzlich geregelte Verpflichtung
Grundsätzlich finden Verfahren außergerichtlicher Streitbeilegung aufgrund privatrechtlicher Vereinbarungen zwischen den Konfliktparteien statt. Dies gilt vor allem für Schiedsverfahren, in denen eine Schiedsvereinbarung Voraussetzung für den Ausschluss der Anrufung staatlicher Gerichtsbarkeit ist.
Gleiches gilt auch für die Verfahren der außergerichtlichen Streitbeilegung, zu denen keine Verpflichtung besteht.
Eine Ausnahme bilden Schlichtungen/conciliations, wie z.B. der ehemalige § 495 a ZPO, der bei geringwertigen Streitigkeiten als Zulässigkeitsvoraussetzung eine Klage vor den Versuch einer außergerichtlichen Streitbeilegung vorhersah wie auch die conciliation im Sinne des Artikel 1345 Code Judiciare.
Grundsätzlich ist bei jedweder außergerichtlicher Streitbeilegung eine freiwillige Vereinbarung zwischen den Konfliktparteien vorauszusetzen.
Ausnahmen bilden vom Gericht angeordnete Schlichtungen oder Mediationen, die jedoch deshalb nicht unproblematisch sind, da ihnen ggf. das Element der Freiwilligkeit fehlt.
Es ist auch insbesondere eine Tendenz in der EU zu beobachten, zur Entlastung der Gerichte Verfahren der alternativen Streitschlichtung als Zulässigkeitsvoraussetzung vorzuschreiben. Auch dies ist unter vorgenanntem Aspekt nicht unproblematisch.
7. Werden Sachverständige für dieses Verfahren in Anspruch genommen?
In Schiedsverfahren werden Sachverständige prozentual gesehen genauso häufig wie bei der staatlichen Gerichtsbarkeit in Anspruch genommen. Soweit sich der Verfahrensgegenstand eignet, sollte dies auch der Fall sein für die außergerichtliche Streitbeilegung.
In Belgien wird die gerichtsnahe Mediation (médition judiciaire) häufig durch Sachverständige eigenständig durchgeführt.
Gerade langwierige Sachverständigengutachten in der staatlichen Gerichtsbarkeit bieten einen Anreiz, auch mit Hilfe von Sachverständigen außergerichtliche Streitbeilegung zu betreiben, wobei zur Gewährleistung des Erfolges der Verfahren begrüßenswert ist, wenn der Sachverständige selbst mit den Methoden und Werkzeugen der außergerichtlichen Streitbeilegung bzw. der alternativen Streitbeilegung vertraut ist.
8. Welche Anforderungen müssen Personen erfüllen, die derartige Verfahren durchführen?
- gibt es berufliche und fachliche Qualifikationsanforderungen;
- gibt es zur Erlangung dieser Qualifikation eine gesetzlich geregelte oder anderweitig festgelegte Ausbildung
In Belgien hat die Commission Fédérale des Médiations die Ausbildung des Mediators zwar reglementiert, jedoch wird die Ausbildung selbst von privater Stelle erbracht.
Die Ausbildung umfasst 60 Stunden mit mindestens 25 Stunden Theorie und 25 Stunden Praxis (tronc commun). Danach gibt es eine Unterscheidung. Der médiateur familial muss in einem zweiten Ausbildungsjahr 150 Stunden nachweisen, der médiateur civil et commercial und der médiateur social (Arbeitsrecht) muss 90 Stunden nachweisen.
Gesetzliche Grundlage ist das Gesetz vom 21.02.2005 sowie die décision du 1er février 2007 modifiée par les décisions du 11 mars et 23 septembre 2010 fixant les conditions et procédures d´agrément des centres de formation et des formations des médiateurs agrées und die directive concernant la décision du 1er février 2007 modifiée par la décision du 11 mars 2010.
Der Mediator kann sich zum médiateur agrée, ein von der Commission Fédérale des Médiations verlieher Titel, ausbilden lassen. Diese Qualifikation ist Voraussetzung, um eine gerichtliche Durchsetzung der Mediationsentscheidung bzw. der Vereinbarung in Belgien zu gewährleisten. Auch ist dem médiateur agrée die Einschaltung in der gerichtsnahen Mediation (médiation judiciaire) vorbehalten.
Ferner gibt es eine Verpflichtung zur kontinuierlichen Fortbildung.
Außerhalb des Bereichs des zertifizierten Mediators gibt es in Belgien kein einheitliches oder geschütztes Berufsbild. Das heißt, grundsätzlich kann sich dort jeder als Mediator bezeichnen, aber die Vereinbarungen sind nicht gerichtlich durchsetzbar.
Gleiches gilt in Deutschland. Auch dort ist der Beruf nicht geschützt, es sei denn, man möchte den Titel des zertifizierten Mediators nach § 6 des Mediationsgesetzes erlangen. Gemäß § 2 der hierzu erlassenen Verordnung darf sich als zertifizierter Mediator nur bezeichnen, wer neben der eigentlichen Ausbildung als Mediator einen berufsqualifizierenden Abschluss einer Berufsausbildung oder eines Hochschuldstudiums und eine mindestens zweijährige praktische berufliche Tätigkeit nachweisen kann.
Die Ausbildung zum zertifizierten Mediator beträgt insgesamt 120 Zeitstunden. Die Fortbildungsverpflichtung beträgt 20 Zeitstunden in jeweils zwei Jahren. Der Mediator muss ferner praktische Erfahrung nachweisen, und zwar innerhalb von zwei Jahren mindestens vier Mediationsverfahren als Mediator oder Co-Mediator.
Anwälte, die sich als Mediatoren bezeichnen, müssen entweder die Ausbildung zum zertifizierten Mediator, wenn sie sich als solche bezeichnen wollen, durchlaufen oder gemäß § 7 a der Berufsordnung der Rechtsanwälte (BORA) eine mindestens 90stündige Ausbildung zum Mediator nachweisen.
Im Übrigen ist die Ausbildung des nicht zertifizierten Mediators nicht geregelt. Dieser muss nur grundsätzlich seine Eignung nachweisen, so dass auch in Deutschland kein geschütztes Berufsbild zu verzeichnen ist.
9. Gibt es eine gesetzliche Regelung oder anderweitige Verpflichtung für die Haftung von Personen, die Verfahren und Methoden zur außergerichtlichen Lösung von Konflikten und Streitigkeiten durchführen?
Eine solche verpflichtende Regelung gibt es nicht mit Ausnahme der Anwaltsmediatoren, die von Gesetzes wegen eine Berufungshaftpflichtversicherung nachweisen müssen.
10. Auf welcher Grundlage erhalten diese Personen ein Honorar?
- eine freie Vereinbarung mit den Konfliktparteien;
- eine gesetzlich geregelte Gebührenordnung
Eine gesetzlich geregelte Gebührenordnung für Mediatoren gibt es weder in Deutschland noch in Belgien. Die Vergütung des Mediators wird auf privatrechtlicher Grundlage zwischen den Parteien vereinbart.
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